laut.de-Kritik

Im iPod-Shufflemodus des Jahres 2012.

Review von

Gleichgültig, ob man im Vorbeigehen billiges Eau de Cologne einer längst vergangenen Bekanntschaft erschnüffelt, oder sich beim Brettspielen in der WG wehmütig an den Abend erinnert, als Papa Bitburger auf Muttis Schlossallee kippte: Nostalgie ist schön und kommt meist auf leisen Sohlen. 100 gecs bewiesen allerdings schon mit ihrem Debütalbum, dass es auch anders geht. Spätestens nach der Hälfte von "1000 Gecs" blickt man, unfähig etwas dagegen zu tun, mittenrein ins Strobo-Kaleidoskop: "Scary Monsters & Nice Sprites", Brokencyde, Trollfaces und Ed Hardy-Shirts fliegen an einem vorbei, und ehe man sich versieht, tanzt man Jumpstyle und schreit "Yolo!".

100 gecs' überfallsmäßige Art, vergangene, teils zu recht vergessene Trends, aufzuarbeiten, gleicht dem Shufflemodus eines iPods aus dem Jahr 2012. Auf Dubstep folgen Screamo, Autotune und Nightcore. Fast alles aus jener Zeit, woran man sich eher ungern erinnert, schmeißen Dylan Brady und Laura Les in den virtuellen Shitpost-Mixer. Das Ergebnis entspricht dem Wühlen in der Mülltonne: Es schmeckt sicherlich nicht alles, aber von all den Dämpfen und Gerüchen wird man früher oder später definitiv high.

Für die einen mag es ein Horrortrip sein, für andere ein avantgardistischer und spaßiger Rausch der Extraklasse. Dass ein Großteil der experimentellen Musikszene eher der zweiten Gruppe angehört, beweist "1000 Gecs And The Tree Of Clues". Charli XCX, Black Dresses Injury Reserve und zahlreiche andere Gäste geben sich die Klinke in die Hand und verleihen den ohnehin schon exzentrischen Songs einen oftmals noch verrückteren Anstrich.

Während manche der 14 Songs den Originalen relativ treu bleiben, Beispiele wären der A.G. Cook-Remix von "Money Machine" oder Rico Harvers "800db"-Remix, nehmen sich die meisten der insgesamt 21 Features doch ihre Freiheiten und verleihen ihren Überarbeitungen, milde gesagt, eine eigene Note.

Das gestaltet das Hörerlebnis ebenso vielfältig wie die Liste der geladenen Künstler. Eingangs gibts noch puren Zucker mit dem Pop Posse-Cut "Ringtone", ehe Injury Reserve auf "745 Sticky" zum surrealen Gang über die Kirmes einladen. Während im Hintergrund die Clown-Hupe vor sich hin dudelt, bringt es ein benebelter Ritchie With A T ganz gut auf den Punkt : "Ain't no one give a fuck". "Goddamn" möchte man sagen.

Ausgedudelt hat es sich damit aber noch lange nicht. Danny L Harle schmeißt auf seinem Remix von "Gec 2 Ü" dutzende vibrierende Handys into the Mix, verdoppelt die BPM und schwimmt damit irgendwo im Fahrwasser von Angerfist und DJ Bobo.

Bevor man Zeit hat, das alles angemessen zu verarbeiten, tauchen aus dem Nichts Fall Out Boy auf. Ja, richtig, Fall Out Boy. Wieso? Weshalb? Warum? Ich weiß es doch auch nicht. Gemeinsam mit Craig Owens und Nicole Dollanganger remixen sie "Hand Crushed By A Mullet" und liefern einen der memorabelsten Momente des Albums. Zwischen all dem tonalen Chaos wirkt Patrick Stumps Stimme in den ersten Sekunden wie ein rettender Anker. Der rostet allerdings relativ schnell und geht spätestens mit einer Screamo-Einlage am Backend vollends unter.

Und so treibt man eben hilflos weiter. Bleibt bei "Stupid Horse" kurz auf GFOTY und Count Baldors Bad Taste Ska-Party hängen, macht einen Abstecher bei Tommy Cash und Hannah
Diamond
, die "XXXi_Wud_Nvrstop_XXx" zur Eurodance-Hymne machen, und landet schließlich mit den Black Dresses direkt in der Vorhölle. Verzerrte Screams und aggressive Noise-Beschallung machen aus "745 Sticky" einen waschechten Albtraum. Es ist einer der wenigen Momente auf "1000 Gecs And The Tree Of Clues", bei dem die Kollaborateure ein wenig übers Ziel hinausschießen und der spaßige Spirit der Gecs auf der Strecke bleibt.

Zum Abschluss gibts neben zwei ka­thar­tischen Liveversionen auch zwei komplett neue Songs, die im Kontrast zum Rest des Albums nicht wirklich erwähnenswert sind. Gerade "Came To My Show" klingt erschreckend unaufgeregt und fliegt nach 40 Minuten Reizüberflutung vorbei, ohne einen wirklichen Eindruck zu hinterlassen.

Auf dem Papier klingt das alles sehr nach Gimmick und plumber, nach plakativer Weirdness. In Wahrheit, und das veranschaulichen die Remixes allesamt wunderbar, steckt in jedem der Songs unglaublich viel Liebe zum Detail sowie ein profundes Gespür für den insgeheimen Reiz der all diesen Pop- und Elektro-Trademarks innewohnt, auch wenn sie kollektiv schon vor langer Zeit als Trash abgestempelt wurden.

100 gecs werden vielerorts als Zukunft der Pop-Musik gefeiert, und "1000 Gecs And The Tree Of Clues" macht noch mehr als das Debüt deutlich, warum. Wer es schafft, aus dem wilden Sammelsurium der Pop- und Elektro-Sünden der vergangenen 10 Jahre ein so hemmungslos spaßiges Album zu zimmern, der hat nicht nur die Entwicklung dieser Genres verstanden, sondern hat auch ein Mitspracherecht, was deren Zukunft angeht.

Vielleicht braucht es aber auch einfach nur Musiker wie 100 gecs, die uns vorgaukeln Zukunftsmusik zu machen, um mal wieder ausgelassen zu Nightcore, Gabber oder Eurodance feiern zu können. Der Spaß im Vordergrund, und das sollte ohnehin die oberste Priorität der Pop-Musik sein.

Trackliste

  1. 1. Money Machine (A.G. Cook Remix)
  2. 2. Ringtone (Remix)(feat. Charli XCX, Kero Kero Bonito & Rico Nasty)
  3. 3. 745 Sticky (Remix) (feat. Injury Reserve)
  4. 4. Gec 2 Ü (Danny L Harle Harlecore Remix)
  5. 5. Hand Crushed By A Mullet (Remix) (feat. Fall Out Boy, Craig Owens & Nicole Dollanganger)
  6. 6. 800db Cloud (Rico Harver Remix)
  7. 7. Stupid Horse (Remix) (feat. GFOTY & Count Baldor)
  8. 8. Ringtone (umru Remix)
  9. 9. XXXi_Wud_Nvrstøp_ÜXXx (Remix) (feat. Tommy Cash & Hannah Diamond)
  10. 10. 745 Sticky (Black Dresses Remix)
  11. 11. Gecgecgec (Remix) (feat. Lil West & Tony Velour)
  12. 12. XXXi_Wud_Nvrstøp_ÜXXx (99jakes Remix)
  13. 13. Gec 2 Ü (Remix) (feat. Dorian Electra)
  14. 14. Hand Crushed By A Mullet (NOTHANKY0U Remix)
  15. 15. Came To My Show (Intro)
  16. 16. Came To My Show
  17. 17. Toothless
  18. 18. Small Pipe (Live at Fishcenter)
  19. 19. 800 db Cloud (Live at Fishcenter)

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