laut.de-Kritik

Da wachsen wir nie raus.

Review von

30 Jahre nach "Dummy" veröffentlicht Beth Gibbons mit "Lives Outgrown" tatsächlich ihr Solo-Debüt. "Out Of Season" war spektakulär gut, aber Paul Webbs Einfluss deutlich und gewollt.

So richtig komplett solo ist "Lives Outgrown" auch nicht, wenngleich Gibbons alleinverantwortlich zeichnet. Es ist Webbs alter Bandkollege Lee Harris, der an mehreren Songs mitschrieb und vor allem Perkussion beisteuert. Dazu kommt Produzent James Ford, bekannt von seiner Arbeit für Arctic Monkeys und Depeche Mode (und so einigen mittelmäßigen britischen Folk-Pop-Bands), der zahlreiche unterschiedliche Instrumente bedient.

Dass man deshalb nicht um die Identität des Albums fürchten muss, zeigt schon die exquisite Single "Floating On A Moment". Jede Note atmet Gibbons Charakter, und der ist tief und meditativ, ohne auch nur eine Millisekunde Langeweile zu evozieren. Die fünf Minuten lange Single legt die Waffen von "Lives Outgrown" vor: Fast keine Elektronik, viel Instrumente, eher Akustik, dabei mehr Kunstuni als Feenwald und Lagerfeuer.

Gibbons schraubt sich immer weiter in den Song hinein und singt mit ihrer unvergleichlichen Stimme, die keinen Tag gealtert scheint: "Not that I don't want to return". Gibbons bestreitet das ganze Album inhaltlich nie aus einer Position der Schwäche, aber der Reflektion und zuversichtlichen Weisheit ("Lost Changes"). Das hat mit ihrem fortgeschrittenen Alter wenig zu tun, so war die Bristolerin schon immer; hier treibt sie es so weit, dass einem schmerzlich bewusst wird, wie lange das Meisterstück "Third" schon wieder her ist.

Harris' Rolle hört man schon auf dem langsam schreitenden, hymnischen Opener "Tell Me Who You Are Today" deutlich heraus. Mit seinen meist warmen Pauken (und diversen anderen teils mit Gibbons zusammengebastelten Schlaginstrumenten) legt er einen perfekt harmonierenden, dunklen Nährboden für Gibbons. Übertragen auf Portishead nimmt er die Rolle Geoff Barrows ein, der eben den OST für "Civil War" komponierte und dessen sporadisch erscheinende Musik mit Beak> durchgehend exzellent ist. Den Adrian Utley macht sich Gibbons aber selbst, so spielt sie die wunderschöne Gitarre zu Beginn von "Floating On A Moment". Zu dritt experimentierten die Musiker lange, um den dichten Sound des Albums zu erschaffen. Skelettierte Beats gehören genauso der Vergangenheit an wie Soundwellen, die an Gibbons brechen; das Verhältnis Musik/ Gesang ist viel klassischer als jemals zuvor in der Karriere der Sängerin.

Das kostete alles Zeit, und so entstand "Lives Outgrown" über eine ganze Dekade. Und dabei streifte Gibbons so einige Gewissheiten ab, setzt beispielsweise im theatralischen, immer wieder die Hände hochreißenden, und dann wieder versinkenden "Burden Of Life" Backing-Gesang ein. "Lost Changes" ist in seinem an Schwung verlierenden Refrain und den von der tollen Grundfigur losgelösten Strophen ein kleiner Schwachpunkt, bevor in der zweiten Hälfte der Damm bricht und sich befreiend ergießt.

Das ist Kritik auf sehr hohem Niveau, denn "Lives Outgrown" ist keine uniforme, ästhetisch auf Gibbsons Stimme ausruhende Angelegenheit und nicht nur mit Ideen vollgepackt, sondern diese werden auch abwechslungsreich und klug eingesetzt. "Rewind" erinnert an "There There" und rumpelt ähnlich ungelenk und leicht gruselig durch den Wald, nutzt dabei ein Instrument, dessen Namen die Musiker nicht herausfinden konnten, das aber wie ein bellendes Kontrabass auf Gummibändern spielt.

Die zweite Single "Reaching Out" legt gar ein hohes Mid-Tempo vor und baut mit Bläsern im Refrain ordentlich Druck auf, gar etwas Schärfe findet sich. Beths Stimme thront gleichwohl über allem und demonstriert eine hohe Anpassungs- und Dominanzfähigkeit über die Albumstrecke. So im von tiefen Streichern pechschwarz gemalten "Oceans", im Kern ein toller Popsong. Gibbons steht authentisch bis in den letzten Atemzug hinter jeder Zeile und gibt sich nie übertrieben, aber gefühlt doch durchgehend am Anschlag.

Das alles kulminiert im Highlight "For Sale", in dem Gibbons immer eindringlicher fragt: "Just ask yourself / would you choose love / like me?", daneben eine dramatische, dichte Orchestrierung, satt, aber keine Saite zu viel. Eingängig und gleichzeitig herausfordernd, ein großartiges Stück Musik. "Beyond The Sun" macht es kaum schlechter, Ford packt von Farfisa über Cello bis Dulcimer einfach mal die halbe europäische Musikgeschichte an Instrumenten aus, während Harris zu Höchstform aufläuft und Gibbons verzweifelt über den eigenen Glaubensabfall und falsche Entscheidungen, die sie aber wohl doch so wiederholen würde. Genau hin hört man hier auf eigene Gefahr, nur der Closer "Whispering Love" redet einem keine schlimmen Dinge ein, fällt dafür in der ersten Hälfte aber zu lieblich aus, bevor ein Knarzen und Vogelzwitschern den Song öffnen.

Trackliste

  1. 1. Tell Me Who You Are Today
  2. 2. Floating On A Moment
  3. 3. Burden Of Life
  4. 4. Lost Changes
  5. 5. Rewind
  6. 6. Reaching Out
  7. 7. Oceans
  8. 8. For Sale
  9. 9. Beyond The Sun
  10. 10. Whispering Love

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4 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 13 Tagen

    Es muss ja nicht unbedingt den Portishead-Bumms haben, aber da schlafen mir echt die Füße ein :(

  • Vor 13 Tagen

    „mehr Kunstuni als Feenwald und Lagerfeuer“ würde mich jetzt abschrecken, aber vielleicht geht’s doch mehr Richtung the rip.

  • Vor 12 Tagen

    eine der letzten wirklich großen Künstler(innen). Stark schon was vorab zu hören war.

  • Vor 4 Tagen

    Wahnsinnig gutes Album. Auf sehr ansprechende Weise auf hohem musikalischen Niveau, ohne die Kunstakademie allzu arrogant und prätentiös vor sich her zu tragen. Bin unheimlich dankbar, ihre Stimme Mal in einem völlig anderen Klangkosmos auf Entdeckungsreise gehen zu hören.

    Abgeklärter wirkt sie hier als bspw. eine Chelsea Wolfe, die aktuell noch in jedem Moment ihrer aktuellen Platte verbrennen, zerreißen oder ein für alle Mal in den Fluten zu versinken droht. Abgeklärter - aber deswegen nicht spröder, geschweige denn resigniert oder weniger dringlich als im Hauptwerk.

    Auch wenn ich schon bei Third von ihrer Haupt-Band vorab nie erwartet hätte, Beth Gibbons mal "so weit raus" aus ihrem selbst mit entworfenen Tradenark-Sound zu hören - ich bin mir nicht sicher, ob dieses Albumin der vorliegenden Form - insbesondere mit seinem so reichhaltig wie geschmackvoll eingesetzten instrumentalen Arrangements - mit Geoff an Board entstehen UND erscheinen hätte können. Vieles wirkt dabei so verachnörkelt und verzahnt, mutmaßlic lange Jahre durch gemeinsames herum Probieren und Wiederholen der Ideen mit den anderen beiden zusammen allmählich gewachsen, das findest Du so auf einer Triple AAA-Hochglanzpopproduktion mit 20 Songschreiberin halt eher selten bis nie.
    .
    Favoriten sind momentan die "eurientalisch" angehauchten Stücke heute in einer Woche in Berlin live, ick freu mir und die Platte gibt praktisch keinen Anlass, auf allzu ausufernde Portsihead-Darbietungen hoffen zu müssen

    Auch wenn sie sicher könnte und dürfte - ist laut meinem besten Freund in jedem einzelnen Song ihrer Haupt-Band in den Writer Credits genannt. :D