laut.de-Kritik

In rasendem Tempo durch die nächtliche Großstadt.

Review von

Laurent Garnier war in den 80er-Jahren Resident in der legendären Hacienda in Manchester, schwor danach die Franzosen in seinem Pariser Club "Wake Up" drei Jahre lang auf Techno und House ein, gründete zusammen mit Eric Morand die Plattenfirma F Communications, brachte mit "Elektroschock" seine eigene Autobiografie heraus und bespielte die Mannheimer Time Warp ganze acht Stunden lang. Als Produzent lieferte er spätestens mit "Unreasonable Behaviour", das im Februar 2000 erschien, sein Meisterstück ab.

Seine frühen Arbeiten wie die "As French Connection"-EP mit Mix Master Doody waren zu Beginn der 90er noch sehr von House geprägt. Das änderte sich spätestens mit seinem 1994er-Debüt-Album "Shot In The Dark", auf dem er sich Acid- und Detroit-Techno verpflichtete. Ein Jahr zuvor hatte er die "A Bout De Souffle EP" veröffentlicht, auf der sich einige der fantastischsten Tracks befinden, die er je produziert hat, etwa "Wake Up". "30" ließ sich drei Jahre nach dem Debüt, ähnlich wie seine Sets, zwischen House, Techno, Electro, Downtempo, Dub, Funk und Jazz nicht auf ein bestimmtes Genre festnageln.

Auf der Platte ließen sich die Tracks noch unabhängig voneinander betrachten. Ganz anders auf "Unreasonable Behaviour", wo sie eher in einem großen Ganzen eingebettet sind. Garnier wollte nämlich laut ME/Sounds "ein Album zustande bringen, das alle Hörer auf eine Reise schickt und von Anfang bis Ende als Ganzes fesselt."

Von der bedrohlichen Elektronik im Intro "The Warning" sollte man sich zunächst nicht abschrecken lassen. Die einzige Warnung besteht darin, dass man sich gut anschnallen sollte, denn schon das anschließende "City Sphere" lädt mit verträumter Elektronik, verzerrten Melodien, rohen Drum-Rhythmen und jazzigem Bass dazu ein, in rasendem Tempo durch die nächtliche Großstadt zu düsen.

Anstatt nachfolgend gleich einen Banger von der Leine zu lassen, steigert der Franzose in "Forgotten Thoughts" mit zischenden Drums, trippigen Tunes, schaukelnder Elektronik und dystopischen Science-Fiction-Synthies kontinuierlich die Spannung. Jahre später hätte der Track auch auf "The Dance Paradox" von Redshape stehen können.

Danach gibt es kein Halten mehr: "The Sound Of The Big Babou" verwandelt mit straighter 4/4, wuchtigem Bass, rhythmischer Handclap und abgedrehten Melodien die Tanzfläche in ein Meer zuckender Gliedmaßen. Im folgenden Titelstück erinnern verzerrte Spoken Words kurz an die Essenz von Techno, die aus Toleranz und Freiheit besteht. "Cycle D'Oppositions" bietet im Anschluss komplexe und verschachtelte Sounds der Marke WARP, eingebettet in den schrägen Klangkosmos des sympathischen Franzosen.

In "The Man With The Red Face", das zukünftigen Techno meets Jazz-Fusionen den Weg ebnete, schaffen präzise Snare- und Handclaptöne, gerade 4/4-Beats, verspielte Science-Fiction-Synthies und eine eingängig jazzige Melodie Raum für die intensiven Saxofonimprovisationen Philippe Nadauds, die ihresgleichen suchen. Trippiger gestaltet sich wiederum "Communications From The Lab", das mit blubbernden Beats, melancholischem Piano und dramatischen Streichern die Spannung weiter aufrecht hält.

"Greed (Pt. 1+2)" führt mit deepen Electro-Funk-Klängen und Vocodervocals Richtung "Detroit". "Dangerous Drive" pendelt sich bei 136 bpm beziehungsweise 136 km/h auf dem Tacho ein. Dazu wartet der Track mit hypnotischen, tanzbaren Rhythmen und einer fulminaten Spannungskurve auf, die den Hörer bis zum energetischen, euphorischen Finale bei Stange halten.

Im von noisigen Momenten durchzogenen "Downfall", das schon auf die manchmal beatlosen Strukturen von "The Cloud Making Machine" fünf Jahre später hindeutet, steigert sich die Spannung, wo die Reise am Ende hingeht, ins Unerträgliche. Zum Schluss zollt der Franzose in "Last Tribute From The 20th Century" mit warmen House-Tunes, deepen Synthies, ruhigen Flötenklängen und weiblichen Spoken Words "New York, Detroit and Chicago" respektvoll seine Anerkennung. Dabei stellt sich schon von der ersten Minute an ein wohlig nostalgisches Gefühl ein. Hier möchte man bleiben.

Nach "Unreasonable Behaviour" brachte Garnier auf seinen Alben vermehrt seine Vorliebe für Soundtracks zum Ausdruck und veröffentlichte selbst mehrere Filmscores. 2021 erschien eine gemeinsame, äußerst hörenswerte Platte mit der Neo-Psychedelic-Beat-Band The Limiñanas namens "De Película".

Aktuell betreibt er zusammen mit Scan X das Label COD3 QR, auf dem er selbst Künstler fördert, die später einmal in der Lage sein sollen, in seine Fußstapfen zu treten. Der "COD3 QR 010"-EP spendierte er außerdem noch mit "How D'Ya Like Your Beef" einen harten, dystopischen Techno-Track in bester Detroit-Tradition. Somit scheut er einerseits nicht den Genrewechsel, bleibt aber andererseits seinen Wurzeln treu.

Letzten Endes verpasste Laurent Garnier auf "Unreasonable Behaviour" seiner Musik einen frischen, individuellen Anstrich, ohne seine rohen Qualitäten zu vernachlässigen. Das Album klingt auch mehrere Jahrzehnte nach seinem Release so spezifisch und einzigartig, dass sich die jüngere Techno-Generation eine große Scheibe davon abschneiden kann.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. The Warning
  2. 2. City Sphere
  3. 3. Forgotten Thoughts
  4. 4. The Sound Of The Big Babou
  5. 5. Unreasonable Behaviour
  6. 6. Cycle D'Oppositions
  7. 7. The Man With The Red Face
  8. 8. Communications From The Lab
  9. 9. Greed (Pt. 1+2)
  10. 10. Dangerous Drive
  11. 11. Downfall
  12. 12. Last Tribute From The 20th Century

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2 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor einem Jahr

    "The Man With The Red Face" bzw. das Saxophon darin ist killer! Das Cover von Meute ist auch sehr gut.

    https://www.youtube.com/watch?v=NhGXn9Qo9HA

    Mehr kenne ich leider nicht vom guten Laurent, vllt höre ich mal rein.

    • Vor einem Jahr

      Gab mit "Public Outburst" auch mal eine Liveplatte mit Bugge Wesseltoft, auf der Nadaud Saxofon spielt. Ist glücklicherweise kein schnödes Techno meets Jazz-Experiment, sondern ein eklektischer Mix verschiedener Stile wie Jazz, Downtempo, House, Electro oder Drum'n'Bass.

  • Vor einem Jahr

    The Sound Of The Big Babou, The Man With The Red Face und Dangerous Drive sind so übertriebene Banger, alleine dafür berechtigter Meilenstein. Ähnlich wie bei 30 ist mir der Sprung von diesen Must-Movern zum (für mich) eher kopflastigen Rest meistens aber zu groß fürs Am-Stück-Durchhören, das mit der "Reise" hat mMn erst bei der Cloud Making Machine und Tales Of A Cleptomanic so richtig funktioniert.

    2011 live noch schwer begeistert (ist auch bis heute mein Techno-Highlight glaube), habe ich ihn und sein Schaffen danach ehrlich gesagt ein bisschen aus den Augen verloren und auch das hier ewig nicht mehr gehört. Sollte ich vll. ändern, Unreasonable Behaviour hat gerade jedenfalls immer noch / wieder schwer Bock gemacht. Merci also für die Erinnerung, Toni! :kiss: