laut.de-Kritik

Von der Arbeit, der Psychologie und dem Leben.

Review von

Auf ihrem inzwischen vierten Album drängt die spitzzüngige Franko-Kanadierin Marie Davidson energischer denn je in Richtung Rampenlicht. Nachdem sie 2016 auf "Adieux Au Dancefloor", ganz dem Namen entsprechend, Clubkultur im Allgemeinen und sonstige Missstände im Zirkus der elektronischen Musik kritisierte, schägt "Working Class Woman" in eine ähnliche Kerbe.

Dieses Mal rücken aber vor allem zwei Faktoren in den Fokus: Der exorbitant hohe Arbeitsaufwand, um von der eigenen Musik leben zu können, sowie Einflüsse aus der Psychologie. Schon vor der Veröffentlichung von "Working Class Woman" sprach Davidson über ihren Drogenkonsum, die anschließende Entzugsphase und eigene psychische Probleme, an denen wiederum das anstrengende Tourleben seine Aktien hat.

Gewissermaßen entwickelt sich also ein System aus Eckpfeilern, die einander bedingen, verstärken und der Sängerin den so dringend benötigten Raum für ihre zynischen, humoristischen und vermehrt auch bitterernsten Kommentare geben. Beispielhaft dafür steht der vielsagend betitelte Opener "Your Biggest Fan", der dumpf grollend eine Brücke zum letzten Album schlägt, den hektischen Lifestyle einer Musikerin verarbeitet und die Bandbreite an Reaktionen abbildet, denen sie sich ausgesetzt sieht.

Nach Samples aus dem Verkehrstreiben pulsierender Städte - auch die Berliner U-Bahn darf nicht fehlen - rangieren diese zwischen Zuspruch, inhaltslosem Geschleime und Lästereien unter der Gürtellinie. Die Unterschiede fallen ob Davidsons zynischer Darbietung der Vocals aber so marginal aus, dass man das Gefühl bekommt, sie gerate ausschließlich an Menschen, die ihr Böses wollen.

Schon an zweiter Stelle folgt mit "Work It" der Track, der die Essenz des Albums wohl am besten abbildet. Ein simpler, aber wirkungsvoller Beat aus der Drum-Machine paart sich mit eindringlichem Sprechgesang, der - überraschenderweise - die in der Gesellschaft vorherrschende Arbeitsmoral aufs Korn nimmt: "You know how I get away with everything? I work. All the fucking time. (...) Work it. Work to be a winner." Botschaft angekommen.

Spätestens bei "The Psychologist" danach könnte man meinen, Marie Davidson sei viel daran gelegen, ihre Botschaften schon zu Beginn des Albums loszuwerden, um im Anschluss mehr Zeit auf Jams mit analoger Hardware verwenden zu können. Das Tracklisting lässt das zumindest vermuten. Der Beat unterscheidet sich hier jedoch stark von den beiden Vorgängern: Claps und Rimshots jagen einander, Psychologen-Samples aus Filmen gehen ein Duett mit Davidsons Vocals ein und hinterlassen einen manischen Eindruck.

Das leider nur knapp dreiminütige "Lara" im Anschluss erinnert an die Acid-geschwängerten Klangcollagen Helena Hauffs, "Day Dreaming" sorgt dann für eine willkommene Ambient-Verschnaufpause. Davidsons hallende Stimme geht hier mit hellen Keys und Akkorden eine ausgezeichnete Synthese ein.

Ganz anders verhält es sich daraufhin wieder mit "The Tunnel", einer bedrückenden wie beunruhigenden atonalen Klangcollage, die Davidson auf Englisch und Französisch sowie mit verschiedenem Timbre kommentiert: "And by the way: I don't need a VR-Headset to feel emotions. Reality is disgusting enough. And we all have to deal with it." Alles in allem pendelt das Stück wohl zwischen schonungsloser Selbstgeißelung und Performance Art-Übertragungen auf Arte.

"Workaholic Paranoid Bitch" verdient sich dann nicht gerade den Preis für den dezentesten Songtitel, überzeugt abermals mit einem aberwitzigen Beatmuster und veranschaulicht die Hektik in Davidsons Leben mit dem assoziativen Vorschlaghammer.

Dem steht "So Right" diametral entgegen. Nach den anfänglichen, gewohnten Sprechstücken ertönt das einzige Mal auf dem Album deutlich zu vernehmender Gesang. Dass sie neben allen Experimenten und Techno-Exkursen ganz genau weiß, wie intelligenter Pop funktioniert, zeigt Davidson an dieser Stelle. Die zurückhaltende Instrumentierung lässt genug Platz für ihre Stimme, entfaltet sich über fünf Minuten aber trotzdem zusehends zum überraschendsten Stück der LP.

"Burn Me" setzt, anders als die restlichen Instrumentals, auf ein greifbareres Tempo sowie ein Four-To-The-Floor-Beatschema, eine kontinuierliche Entwicklung und eine sich stetig steigernde Intensität. Dass die Grundstimmung düster bleibt, muss nicht extra erwähnt werden.

Die Traumsequenz "La Chambre Intérieure" beendet "Working Class Woman" auf nachdenkliche, elusive Weise und bleibt in seinen Botschaften bewusst vager als manche der vorherigen Nummern.

Marie Davidson mag nicht jedermanns Fall sein. Das scheint aber weniger an ihrer Musik selbst zu liegen, sondern an dem Fakt, dass sie einen oft schwer zugänglichen, bewusst feministischen Ansatz mit allerlei Doppelbödigkeiten, Tabubrüchen und letztendlich doch wieder plakativen Aussagen verfolgt. Diese Mischung zwischen Artpop und experimentellen Ansätzen wirkt manchmal überzogen, insgesamt liefert sie aber ein erneut starkes Album ab.

Trackliste

  1. 1. Your Biggest Fan
  2. 2. Work It
  3. 3. The Psychologist
  4. 4. Lara
  5. 5. Day Dreaming
  6. 6. The Tunnel
  7. 7. Workaholic Paranoid Bitch
  8. 8. So Right
  9. 9. Burn Me
  10. 10. La Chambre Intérieure

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