Großbritannien stimmt morgen über den EU-Verbleib ab - und Rest-Europa schaut gespannt zu.

London (mam) - Die etwas ungelenke Wortschöpfung Brexit ist in aller Munde: Die Briten stimmen morgen per Volksentscheid über den Verbleib in der Europäischen Union ab. Niemand weiß genau, was passiert, wenn sie tatsächlich "Out" statt "In" sagen. Laut jüngsten Prognosen lässt sich keine der beiden Varianten als klarer Favorit ausmachen, die Bevölkerung steht dem Brexit geteilt gegenüber.

Welche Folgen ein Ausstieg für die globalen Börsengeschäfte, den europäischen Binnenhandel sowie die EU als Ganzes haben könnte, bleibt heiß diskutiert. Eine eher untergeordnete Rolle in der hitzigen Debatte spielt die Musikindustrie. Dabei könnte die Entscheidung am Donnerstag auch in der Musikwelt für Veränderungen sorgen - wie britische Künstler betonen.

Hätte der Brexit Einfluss auf die Musikwelt?

Es gibt Stimmen, die den Ausstieg aus der EU für eine Art Katalysator halten. Nationalisten sind in ganz Europa auf dem Vormarsch, und die Befürchtung wächst, dass andere Länder den Brexit als Vorbild nehmen würden. In Brüssel hält man sich mit klaren Meinungsäußerungen dementsprechend eher zurück.

In der Musikbranche dagegen positionieren sich immer mehr Künstler deutlich gegen das Ausscheiden aus der EU. Elektropionier und Produzentenlegende Brian Eno (U2, Coldplay) beispielsweise wandte sich in einem Facebookpost direkt an seine britischen Landsleute.

"Ich habe viele Bedenken gegenüber der EU-Führung, aber sie bringen mich nicht dazu, die ganze Idee zu verwerfen. Das einzig gute Ergebnis dieses Referendums ist, dass es uns an die eigentliche Mission der EU erinnert und uns motivieren könnte, diese doch noch zu erfüllen. Also, bitte wählt und bittet eure Freunde, das auch zu tun."

Die "Britain Stronger In Europe"-Kampagne organisierte einen offenen Brief, in dem sich über 300 Künstler aus den unterschiedlichsten Richtungen gegen einen Brexit aussprechen. Der Handel und die Zugehörigkeit zu Europa habe die Industrie in der Vergangenheit sehr begünstigt, zudem habe Europa entscheidenden Anteil an der Zukunft der britischen Unterhaltungsbranche.

"Großbritannien ist nicht nur stärker in Europa geworden, es ist auch einfallsreicher und kreativer geworden, und unser globaler kreativer Erfolg würde von einem Weggang sehr geschwächt", heißt es in dem Brief.

Musiker, Autoren und Schauspieler gegen den Brexit

Die Kampagne wird unter anderem von Jude Law, Keira Knightley und Benedict Cumberbatch unterstützt, doch auch Autor John Le Carre oder Designerin Vivienne Westwood zählen zu der "In"-Fraktion. In einem lesenswerten Essay kritisierte Harry Potter-Autorin J.K. Rowling das Verhalten beider Seiten, die allgemeine Debatte sei schon längst vergiftet.

"Ich bin in den meisten Dingen kein Experte, aber ich weiß, wie man ein Monster erschafft", beginnt Rowling ihren Artikel. Europa halte sie für nicht perfekt, als "big brotheresque" bezeichnete sie die Union, protestiert aber gegen einen vorschnellen Ausstieg. Für die Gegenseite argumentiere sie hierbei nicht, sie wolle lediglich Denkanstöße geben, so Rowling.

Deutlich gegen den Ausstieg positionierten sich neben Produzent Bob Geldof auch Mogwai-Keyboarder Barry Burns sowie Ex-Smiths-Gitarrist Johnny Marr, die jeweils auf Twitter ihren Unmut über nationale Strömungen zum Ausdruck brachten. Super Furry Animals' Gruff Rhys veröffentlichte sogar eine Liebeserklärung an die Europäische Union.



Keine Konzerte mehr von britischen Bands?

Ein weiterer Punkt, den die Brexit-Gegner ansprechen, ist die Entwicklung der Livebranche. Die Befürchtung wächst, dass britische Bands nach einem Austritt nicht mehr ohne Visa durch Zentraleuropa reisen könnten. Die Kosten und Wartezeiten für Konzerte außerhalb der britischen Insel wären dann gerade für junge Künstler ein unkalkulierbares Risiko.

Colin Roberts, Manager der Band Bloc Party, erklärte gegenüber Pitchfork: "Ein Visum zu erhalten ist ein absolutes Minenfeld und kostet eine Menge Geld, und es ist der Grund, warum eine Menge Künstler nicht in Amerika auf Tour gehen können. Selbst in Ländern mit vergleichsweise leichten Einreisebestimmungen wie Japan ist es sehr schwer vorherzusehen, wie viel Zeit und Kosten ein Visum beanspruchen wird."

Das Elektro-Funk-Kollektiv Fujiya & Miyagi aus Brighton zählte zu den Acts, die ihrer Meinung mit einem manipulierten Albumcover in den sozialen Medien Ausdruck verliehen: Dem Debütalbum-Cover der wegweisenden Düsseldorfer Krautrock-Band Neu! nahm ein findiger Brexit-Gegner kurzerhand den ersten Buchstaben ab:

Musiker - für den Brexit

Aber auch Anhänger des "Out"-Lagers bekommen prominente Rückendeckung. The Whos' Roger Daltrey beispielsweise sieht die Wertegemeinschaft kritisch. Er lehne es ab, von Menschen regiert zu werden, die er nicht gewählt habe: "Ich mache mir wirklich Sorgen, wenn wir weiterhin zu Europa gehören. Wir haben weder darüber abgestimmt, ihre Gesetze zu akzeptieren, noch sollten wir es müssen".

Daltrey glaubt, dass die EU ohnehin bald scheitere: "Sie müssen erst die Europäische Union rekonstruieren, wir sehen gerade keine andere Möglichkeit, als zu gehen. Obwohl ich glaube, dass die EU ohnehin zusammenbrechen wird. Und wollen wir dabei sein, wenn es geschieht? Ich wäre lieber der erste Stein, der aus der Mauer geschlagen wird und den Kollaps herbeiführt, so dass wir sie neu aufbauen können. Wir müssen nicht alles auf den Schrott befördern, aber die Institutionen müssen grundlegend neu aufgebaut werden. Denn es funktioniert offensichtlich gerade nicht, Europa ist einfach zu groß".

Auch Bryan Adams kritisiert vor allem die Institutionen der EU. In einem Tweet wirft auch er die Frage auf, ob sich das Vereinigte Königreich von nicht gewählten Personen regieren lassen möchte.


Am Donnerstag beginnt neben dem Brexit-Referendum übrigens auch das renommierte Glastonbury Festival. Die Veranstalter haben ihre rund 200.000 Gäste dazu angehalten, über den Postweg auf jeden Fall abzustimmen. Der Geschäftsführer des Verbands unabhängiger Festivals, Paul Reed, verlautete gegenüber Pitchfork:

"Das Festival-Business hat einen echten europäischen Markt entwickelt, was eine große Stärke ist, wenn man die riesigen Festivals bedenkt, die überall auf dem Kontinent stattfinden und auf ein EU-weites Publikum abzielen. Es gibt das Argument, dass es viel komplizierter wird über Grenzen hinweg so zu arbeiten, wie wir es bisher konnten, sollte Großbritannien Europa tatsächlich verlassen."

Auch Florence Welsh erinnert ihre Fans daran, am Donnerstag abzustimmen. Sie ist auf der Seite vieler Festivalveranstalter und spricht sich für einen Verbleib in Europa aus.


Bei aller Hitzigkeit der Debatte ist der Brexit alles andere als ein neues Thema. Bereits unter Margaret Thatcher wurden in den Achtzigern Stimmen laut, die britische Regierung würde sich nur um die Belange des europäischen Marktes scheren. Die Landbevölkerung kritisierte den Umgang mit den eigenen Bürgern und The Housemartins widmeten der damaligen Problematik ihre Debütplatte "London 0 Hull 4".

Eine unkonventionelle Entscheidungshilfe ...

Die komplexe Brexit-Problematik sorgt bei vielen Bürgern für Verwirrung - trotzdem wird eine hohe Wahlbeteiligung erwartet. Den meisten Briten fällt es schwer einzuschätzen, wie viel tatsächlich von dem Referendum abhängt. Gerade ob der schieren Masse an Informationen und Meinungen könnte vielleicht eine kleine, nicht ganz ernst gemeinte Entscheidungshilfe Orientierung geben.

Das satirische Musikprojekt The Iain Duncan Smiths teilte auf Soundcloud zwei Playlists, um Unentschlossenen zu helfen. "NOW! That's What I Call Brexit" plädiert mit Künstlern wie Farage Against The Machine oder Borrissey für den Ausstieg der Briten. Mit "NOW! That's What I Call Bremain" und Daft Junk, Kraftmerk und Bullingdon Beatles will man dagegen in der EU bleiben. Der Donnerstag wird zeigen, welche Playlist besser gewirkt hat.

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