Der stille Keyboarder von Soft Cell über "Tainted Love", Abstürze, Body-Doubles und Mütter, die laut zu "Sex Dwarf" singen.

Konstanz (mis) - "I've got the brains you've got the looks / let's make lots of money" heißt es im Pet Shop Boys-Song "Opportunities". Damit ist Soft Cell ziemlich exakt umschrieben: Für die Optik war stets Vokalpfau Marc Almond zuständig. Dave Ball wiederum, der unscheinbare Mann hinter dem Synthesizer, fungierte als musikalisches Gehirn. Das mit dem Haufen Geld hat auch geklappt, und zwar viel früher und vor allem heftiger, als es sich die Briten je erträumen konnten.

Von der ziemlich beneidenswerten Geschichte, als abgebrannter Kunststudent mit der zweiten Single einen Welthit zu landen, erzählt Ball in seiner Autobiografie "Electronic Boy - My Life In And Out Of Soft Cell" (Omnibus PR, gebunden, englisch, 312 Seiten, 21,99 Euro). Das ist auch deshalb interessant, weil sich Balls musikalische Aktivitäten nach der vorläufigen Trennung der Band 1984 selbst für Anhänger des Synthie-Pop-Genres eher im Trüben verlieren. Überhaupt: Dass der Verlag es sich tatsächlich nehmen ließ, irgendwie "Tainted Love" in den Titel zu pressen, ist lobenswert. Zumal die Geschichte des Keyboarders weitaus schillernder ausfällt als man denken könnte.

Gleich zu Beginn zieht Ball selbst eine erstaunliche Parallele zu den Pet Shop Boys: Nicht nur sollten sie als Synthie-Pop-Duo dem Vorbild Soft Cells in gewisser Weise nacheifern. Neil Tennants Keyboard-Partner Chris Lowe stammt auch noch wie Ball aus Blackpool und ging sogar auf dieselbe Schule, allerdings "eine Stufe unter mir und mit Jüngeren hingen wir nicht ab" (Ball).

Mit trockenem britischen Humor nimmt einen der 61-Jährige an der Hand, auch wenn seine Kindheit eher schwierig ablief: Als Kleinkind mit 18 Monaten zur Adoption freigegeben, wächst er bei seinen neuen Eltern auf, bald mit einer ebenfalls adoptierten Schwester. Als er 17 ist, stirbt sein Vater an Krebs. Die Musik wird zu seinem Fluchtpunkt, zunächst steht Ball auf Northern Soul, ab 1977 kommt Punkrock und durch einen wilden Zufall auch Kraftwerk hinzu. Irgendwann zählt Ball eins und eins zusammen: Warum nicht seine Liebe zu Northern Soul mit der Electrodisco von Giorgio Moroder verbinden? Die Idee zu "Tainted Love" ist in der Welt. Allerdings huldigen Soft Cell gar nicht der Originalinterpretin Gloria Jones, wie weithin angenommen. Die Liebe des Duos galt der 1975er Version einer gewissen Ruth Swann:

Der Weg zum Welterfolg mag kurz gewesen sein, frei von Alpträumen war er nicht. Mit ehrlichem Entsetzen beschreibt Ball etwa einen frühen Auftritt 1980 mit Depeche Mode in deren Resident-Club Crocs nahe Basildon als "in jeder Hinsicht erniedrigend". Nicht nur, dass sich Almond und er von der Support-Band die Butter vom Brot nehmen ließen, all das geschah vor den Augen von Daniel Miller, Mitgliedern von Visage und Ultravox sowie der legendären New-Romantics-Hipster-Crowd aus dem Blitz-Club, die extra aus London anreiste. Miller glaubt dennoch an die Demos des Duos und produziert die Soft-Cell-Debütsingle "Memorabilia".

Unzeitgemäße Ansichten großer Plattenfirmen kanzelt Ball wuchtig ab und würzt sie mit heute kaum fassbaren Kuriositäten. So mussten etwa in den frühen 80er Jahren alle Bands, die bei "Top Of The Pops" oder anderswo im britischen TV auftreten wollten, nicht nur in die Musikergewerkschaft eintreten. Sie wurden auch dazu verpflichtet, drei Stunden in einem speziellen TV-Aufnahmestudio zu verbringen, um den für die Aufführung vorgesehenen Song "neu" aufzunehmen, nur damit diese Version dann gesendet werden darf.

Wie interessant man als Keyboarder in den 80er Jahren für die Öffentlichkeit war, illustriert eine Anekdote, die so auch bei den Pet Shop Boys oder Erasure vorstellbar ist. Ende 1981, Soft Cell hinken ihrem Zeitplan für das Debütalbum "Non-Stop Erotic Cabaret" in einem New Yorker Studio schwer hinterher, ruft die deutsche Plattenfirma an: Ein TV-Auftritt in einer der größten Musiksendungen kommende Woche. Gemeint ist Ilja Richters "Disco". Die Band müsse den Termin unbedingt wahrnehmen, die Nummer-Eins-Platzierung von "Tainted Love" in Deutschland würde sich dadurch automatisch verlängern. Ball flippt aus, so könne man ja nicht arbeiten. Doch Almond hat die Lösung: Er fliegt alleine nach Europa zurück und stellt einfach einen alten Freund aus Leeds hinter den Synthie - merkt doch keiner. Und so war es:

In den ausgehenden 80er Jahren versucht Ball vor allem seine Drogenabhängigkeit und den Anspruch der eigenen Künstleridentität mit dem Alltag eines zweifachen Familienvaters zusammen zu bringen, was leidlich funktioniert. Wenig verwunderlich, dass er häufig mit Genesis P-Orridge (Throbbing Gristle, Psychic TV) abhängt, der diesen Balanceakt Mitte der 80er ebenfalls wagt. Kommerziell ist Ball 1994 mit seinem Techno-Projekt The Grid wieder obenauf. Die Story, wie das Banjo in "Swamp Thing" kam, ist alleine schon lesenswert. Doch auch über Kollegen wie Lemmy (Motörhead), Freddie Mercury, David Bowie, Klaus Nomi oder Pete Burns (Dead Or Alive) weiß Ball Amüsantes zu berichten.

Den Bogen zurück zu Soft Cell findet der Musiker dank einiger Reunions immer wieder und nicht einmal die Abschiedsshow 2018 in der Londoner O2-Arena setzt den Schlusspunkt unter "Electronic Boy". Obwohl die Story mit Marc Almonds Mutter, die nur ein paar Sitze neben Andrew Lloyd Webber lautstark zu "Sex Dwarf" mitsingt, einen perfekten Schluss abgegeben hätte. Für Fans aber wichtiger: Aktuell sitzt das Duo am Album-Nachfolger des 2002er Albums "Cruelty Without Beauty".

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