Die Tallinn Music Week lockte mit 200 so obskuren wie beeindruckenden Artists zu einem der einzigartigsten Festivals Europas.

Tallinn (ynk) - Es klingt ein bisschen, als hätte man ganz bewusst nach der ganz besonders alternativen Option gesucht, wenn man Leuten erzählt, man sei von Estland fasziniert. Das nördlichste Land des Baltikums liegt für viele etwas im toten Winkel des wohligen Astrid Lindgren-Charmes Skandinaviens und dem kaltschnäuzigen Dostojewski-Cools von St. Petersburg oder Moskau. Tatsächlich verbirgt sich in Tallinn aber eine europäische Hauptstadt, die in vielerlei Hinsicht der Kurve weit voraus ist.

Auf Entdeckungstour

Nicht nur gilt das technologisch liberale Tallinn vielerorts als das europäische Cyber Valley und die Gesetze in Sachen Internet und Technologie sind fortschrittlicher als quasi überall sonst in Europa. Auch kulturell siedelten sich mannigfaltige Künstler an, die den Schmelztiegel aus der progressiven Aura Skandinaviens und dem ehemaligen geisteswissenschaftlichen Zentrum der Sowjetunion zu schätzen wissen.

Wer sich von diesem einzigartigen kulturellen Klima überzeugen will, dem sei die Tallinn Music Week ans Herz gelegt: In einem Modus, der an eine noch radikalere Spielart von Events wie dem Reeperbahn Festival erinnert, stürmen zwischen dem 25. und 31. März fast 200 Musiker auf unzähligen Bühnen die ganze Stadt. Ob kostenlose Pop-Up-Shows in Malls, an markanten Punkten der Innenstadt oder geballt im Szenebezirk der Nordstadt - im dreitägigen Musikprogramm kann man sich auf Entdeckungstour durch das großteils völlig obskure Line-Up begeben.

Große Headlinernamen und sperrige Mainstages sucht man hier vergebens. Abgesehen von ein paar lokalen Legenden und urigen Alt-Punk-Bands setzt die Tallinn Music Week auf das Unbekannte. Stolpert man dann also in die Nacht hinaus und lässt sich zwischen den industriellen Gebäuden, den Hipstern und den Foodtrucks treiben, landet man fast garantiert bei einem Musiker, den man sonst nie auf dem Radar gehabt hätte.

Von estnischem R'n'B wie YASMYN über ukrainischen Trap namens Alyona Alyona bis hin zu einem osteuropäischem Kraftwerk-Lookalike gibt es alles, von dem das Herz vorher nicht wusste, dass es es begehren würde. Sollte man etwas genauere Vorstellungen an den Genre-Mix haben, kann man sich zumindest über die Stages grob orientieren. Die Hip Hop-Night, Metal-Night oder diverse Techno-lastige Floors geben den Rahmen, was gefallen könnte. Denn an den Namen orientieren, das kann man sich kaum.

Genau dies markiert aber die große Stärke des Festivals: Man werfe die Sehnsucht nach Foo Fighters- und Major Lazer-Headlinern über Bord und wird beeindruckt sein, wie vorwärtsgedacht und liebevoll sich die Kuration der Artists zeigt. Es bündelt ein paar der besten Qualitäten der zeitgenössischen, europäischen Musikszenen, wie hier treffsicher vielversprechenden Talenten in den Kinderschuhen ihrer Karrieren eine Plattform geboten wird, ihr Publikum zu erweitern und sich mit anderen vielversprechenden Künstlern auszutauschen.

Exemplarisch für diesen Usus ist zum Beispiel DJ Rokky. Die kanalisiert mit ihren Wurzeln zwischen Island, England, Deutschland und Frankreich nicht nur das multikulturelle und polyglotte Chic des Europa-affinen Tallinn wunderbar, sondern kann auch Pate dafür stehen, wie früh in den Karrieren die Tallinn Music Week vielversprechende Musiker aufgreift. Mit "My Lips" ist gerade ein Song von Rokky wirklich öffentlichkeitswirksam verbreitet worden, da gibt es für die Newcomerin hier die Möglichkeit, ein ganzes Set zu performen.

Und siehe da: Der hypnotische, etwas French House-aufgeladene Synth Pop-Banger "My Lips" liefert nur die Vorlage für eine Show, die paneuropäische Electro-Vibes mit intimen und eleganten Vocals verbindet, denen man die Singer/Songwriter-Schulung anmerkt. Ein bisschen Karen O in der Vocal-Delivery, ein bisschen Grimes im Electro-DIY und ein klarer Robyn-Bezug im eklektischen Glam der gesamten Performance.

Dabei ist ROKKY auch nur eine von vielen Entdeckungen, die es auf der Tallinn Music Week zu machen gab. Wer mit etwas Geduld, Forschergeist und der Möglichkeit, sich Notizen zu machen, durch das Wochenende streifte, dürfte die eigene Playlist explosiv erweitert haben. Aber selbst ohne all den Hipster-Esprit merkt man schnell, dass Tallinn eine Stadt ist, die eine Reise wert ist.

Arthouse-Steampunk-Wunderland

Der Mix aus alten Kathedralen, industriellen Sowjet-Relikten und modernen Hochhäusern ergibt eine einzigartige Atmosphäre, die so nur im nördlichen Baltikum entstehen konnte. Gerade die Location der meisten Stages im Szenebezirk Telliskivi beeindruckt mit einem derzeit rapide gentrifiziertem Fabrik-Gelände, an dem sich Kunst-Installationen und verwitternde Maschinerie zu einem Arthouse-Steampunk-Wunderland ergänzen. Dazu gibt es Foodtrucks, Fusel und ein Publikum zwischen russischem Alt-Punker und nordeuropäischem Hipster.

Wer 2020 etwas wirklich Anderes respektive Ausgefallenes erleben möchte, der wird mit der Tallinn Music Week keinen Fehler machen. Denn dieses Festival zeigt ein ohnehin massiv unterschätztes Land von einer seiner besten Seiten und vereinigt die Bandcamp- und Soundcloud-Szenen ganz Europas. Und vor Ort fühlt sich dann alles mitnichten so prätentiös an, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

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