laut.de-Kritik

Eine Menge Zuversicht, aber kaum Neuerungen.

Review von

Vor rund eineinhalb Jahren erschien mit "Bad Witch" das letzte Lebenszeichen von Nine Inch Nails. Ende letzten Jahres hieß es, dass die Amerikaner an einem neuen Kollabo-Album arbeiten. Wann das eventuell herauskommt, steht noch in den Sternen. Nun hat die Band vor Kurzem ohne Vorankündigung mit "Ghosts V: Together" und "Ghosts VI: Locusts" die beiden Nachfolger des 2008 veröffentlichten Instrumentalwerks "Ghosts I-IV" zum kostenlosen Download in ihrem Store bereit gestellt. Dabei handelt es sich um "zwei verschiedene Aufnahmen für zwei verschiedene Mindsets", heißt es dort.

In einem an die Fans gerichteten Statement beschreiben Trent Reznor und Atticus Ross ihre Beweggründe zur Veröffentlichung: "Freunde, nachdem die Nachrichtenlage stündlich trostloser erscheint, schwanken wir vehement zwischen dem gelegentlichen Gefühl der Zuversicht und schierer Verzweiflung - oft wandelt sich dies von Minute zu Minute. Auch wenn wir uns selbst eher als anti-soziale Typen definieren, die lieber alleine sind, hat uns diese Situation gelehrt, die Kraft und das Bedürfnis nach Verbindung noch mehr zu schätzen." "Ghosts V: Together" wartet mit einer Reihe hoffnungsvoller Stücke auf.

Trotzdem spürt man in "Letting Go While Holding On" von der positiven Grundausrichtung zu Beginn noch nichts, wenn sich der Track mit verfremdeten Piano-Tönen, dräuenden Elektronik-Klängen und sparsamem Xylophon behutsam aufbaut. Erst wenn dichte chorale Sound-Flächen und sphärische Drones dazukommen und sich die einzelnen Komponenten nach und nach verdichten, offenbart die Musik von Sekunde zu Sekunde immer mehr ihre himmlische Seite.

So ähnlich funktioniert auch das folgende "Together", nur bringt Reznor das Gefühl der Verbindung mit weitaus helleren, strahlenderen Klavier-Tönen zum Ausdruck, während die Chöre ätherisch durch den Raum wandern. Dazu gesellen sich ab der Mitte ruhige Gitarren-Sounds dazu, so dass die Nummer einen leicht postrockigen Charakter aufweist.

Wenn etwas die einzelnen Tracks zusammenhält, dann ist es wohl das Prinzip der atmosphärischen Verdichtung, nur dass das Werk bis auf Ross' besonderes Gespür dafür und bis auf das vielschichtige Klavierspiel Reznors von der Masse an Ambient-Veröffentlichungen größtenteils weder positiv noch negativ heraus sticht.

Das mag zwar ausreichen, um über die Corona-Krise kurzzeitig hinwegzutrösten, denn handwerklich agieren Nine Inch Nails auf recht souveränem Niveau. Jedoch bleibt zu bezweifeln, ob man dem Album gegenüber manchen gemeinsamen Soundtracks von Reznor und Ross wie dem äußerst interessanten, dronigen "Waves" von 2019 in zwei bis drei Jahren den Vorrang gibt. Dafür bietet es einfach zu viele typische Sounds aus dem Reznor/Ross-Baukasten und zu wenige Neuerungen, obwohl die nur selten ausformulierten Klang-Skizzen von "Ghosts I-IV" glücklicherweise der Vergangenheit angehören.

So hält "Out In The Open" zwar mit flächigen Sounds und einzelnen Klavier-Tupfern die hoffnungsfrohe Grundstimmung aufrecht, hinterlässt aber kaum etwas Greifbares, ebenso wie die auf- und abebbenden Chöre in "With Faith" und die versunkenen, klassisch anmutenden Klang-Sphären in Kombination mit dem klaren Pianospiel in "Apart". Letztlich passiert in den Tracks einfach zu wenig, damit der Funke auf den Hörer überspringt.

Da gestaltet sich "Your Touch" schon um Einiges interessanter, führen verspulte Elektronik, repetitives Piano und intensive Streicher-Teppiche in melodramatische Sphären. Am Ende kommt mit Siebzigerjahre-Synthies noch etwas Progressivität ins Spiel. Und dann wäre ja noch "Hope We Can Again", das sich mit einer melodiösen Xylophon-Melodie und Klang-Flächen, die kontinuierlich immer undurchdringlicher werden, zu einem dronigen Höhepunkt in der Mitte aufschwingt, nur damit die Sounds im Anschluss nach und nach abebben, während man die Grund-Melodie noch einmal am Klavier hört. Im Grunde hat man den Gipfel atmosphärischer Verdichtung mit diesem Stück erreicht.

Da verkommt "Still Right Here", das zwar rockiges "The Fragile"-Flair mit dem Laptop-Geklacker von "The Social Network" verbindet, aber von der einstigen Intensität meilenweit entfernt ist, eher zur beiläufigen Randnotiz. Statt sich größtenteils auf ihr klangliches Standard-Repertoire zu besinnen, hätten Trent Reznor und Atticus Ross auch gerne mal mehr über den eigenen Tellerrand schauen können.

Trackliste

  1. 1. Letting Go While Holding On
  2. 2. Together
  3. 3. Out In The Open
  4. 4. With Faith
  5. 5. Apart
  6. 6. Your Touch
  7. 7. Hope We Can Again
  8. 8. Still Right Here

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