laut.de-Kritik

Ein klassisches Konzeptalbum. Und was für eines!

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Wie hieß es noch so schön in der "Feuerzangenbowle", dem bekannten und mehrfach verfilmten Roman von Heinrich Spoerl: "Wo simmer denn dran? Aha, heute krieje mer de Dampfmaschin. Also, wat is en Dampfmaschin? Da stelle mehr uns janz dumm. Und da sage mer so: En Dampfmaschin, dat is ene jroße schwarze Raum, der hat hinten un vorn e Loch. Dat eine Loch, dat is de Feuerung. Und dat andere Loch, dat krieje mer später."

In diesem Loch waren auch Pyogenesis verschwunden, in den 90er Jahren eine der spannendsten Bands der deutschen Metal- und Rock-Landschaft. Nie konnte man sicher sein, wie sich ihr nächstes Album anhören würde, veränderten die Stuttgarter ihren Stil doch kontinuierlich. Dann war irgendwann Sendepause - bis jetzt. Dreizehn Jahre nach "She Makes Me Wish I Had A Gun" erscheint dieser Tage das siebte Album der Schwaben. Es hört auf den Titel "A Century In The Curse Of Time", kommt mit merkwürdig anmutendem Cover-Artwork daher und erzählt die Geschichte des industriellen Wandels im 19. Jahrhundert. Da liegt die oben erwähnte Dampfmaschine nahe, ein kurzer Schlenker über Jules Verne darf auch nicht fehlen.

Ein klassisches Konzeptalbum also. Und was für eines! Der erste Song "Steam Paves Its Way (The Machine)" brettert nach stimmungsvollem Sprachsample direkt los und macht klar, wie viel Kreativität noch in dieser Band steckt: abwechselnd harte und zarte Vocals, anständiges Gitarrengeballer und schöne Melodien im langsamen Zwischenteil, alles da. Stilistisch geht von Melodic-Death-Metal-Elementen bis zu Alternative Rock auf dieser Platte alles.

Auf "A Love Once New Has Now Grown Old" drehen Pyogenesis den Fuzz-Effekt bis zum Anschlag auf. Die Nummer bewegt sich ebenfalls in schnelleren Tempogefilden, bevor "This Won't Last Forever" die Finger vom Dampfhebel nimmt und die Geschwindigkeit ein wenig drosselt. Ich wünschte, ich würde etwas von den Texten verstehen. Aber Flo V. Schwarz und sein Sangesmitstreiter, die zu zweit am Start sind, machen es dem geneigten Hörer mit merkwürdigen Akzenten schwer. Dabei drängt sich das Gefühl auf, dass dieser gefühlvolle Rocksong noch deutlich stärker wäre, wenn man wüsste, worum es geht.

Macht nichts, wir reden hier schließlich nicht über einen Gedichtband, sondern über Gitarrenmusik. Kommt noch etwas Besseres als "The Best Is Yet To Come"? Der Titel legt es nahe, aber diese Nummer wird schwerlich zu toppen sein. In leicht grungiger 90er-Jahre-Atmosphäre schichten die Schwaben Gesangsspur auf Gesangsspur und schütteln einen fabelhaften Song aus dem Ärmel. Dabei erinnern diese Gesangs-Arrangements sehr an die sträflich unterbewerteten King's X. Wer kann, der kann.

Jeder Schuss ein Treffer: "Lifeless" beeindruckt vor allem mit seinen melodischen Strophen und dem schönen Soloteil, der anders klingt als der Rest des Songs. Die stilistische Vielfalt auf diesem Album würde vielen Bands das Genick brechen, bei Pyogenesis stehen all diese Elemente aber stimming nebeneinander und fügen sich nahtlos ineinander. Metalpuristen sind hier sicher am falschen Ort, die Anhänger der reinen Rock-Lehre ebenso.

"Art! Opus! Architecture!" schallen die Rufe in "The Swan King". Worum mag es wohl gehen? Siehe oben. Ein Königreich für ein Textheft. Ich gehe mal schwer davon aus, dass der CD-Version des Albums eines beiliegt. Nach "Flesh And Hair" steuern wir unsere Dampfmaschine auf die Zielgerade: "A Century In The Curse Of Time" thront mit stolzen 14 Minuten Spielzeit am Ende des Albums und entpuppt sich als delikates Filetstück. Streicher (aus dem Keyboard), Akustikgitarren, mehrstimmiger Satzgesang und ein wunderbarer Song, der sich alle Zeit der Welt nimmt. Wo andere Bands in einem Opus von dieser Länge auf Höhepunkte zuarbeiten, treiben die Stuttgarter ihr Stück gemächlich vor sich her nehmen sogar noch Intensität raus. Chapeau!

Was das Album leider von der Höchstwertung ausschließt und einfach mal wieder erwähnt werden muss: der Loudness War. Man höre sich exemplarisch "Flesh And Hair" an. Sagten Sie, die Toms seien zu laut und würden unangehem an Ihrem Gehör abprallen? Tut mir leid, ich konnte Sie gerade wegen der Reißgeräusche nicht richtig verstehen. Schade, aber wir sehen gnädig darüber hinweg und freuen uns über ein sehr gelungenes Album aus dem Hause Pyogenesis. Willkommen zurück, Jungs.

Trackliste

  1. 1. Steam Paves Its Way (The Machine)
  2. 2. A Love Once New Has Now Grown Old
  3. 3. This Won't Last Forever
  4. 4. The Best Is Yet To Come
  5. 5. Lifeless
  6. 6. The Swan King
  7. 7. Flesh And Hair
  8. 8. A Century In The Curse Of Time

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