laut.de-Kritik

Der Ex-Tomte-Sänger erreicht Springsteen-Niveau.

Review von

Das Video zu "Avici", dem schönsten Indie-Rock-Song des Spätsommers, animiert bereits zweieinhalb Minuten lang zum wilden Schwofen, da schwenkt die Kamera auf das Cover des Zap-Magazins – dem legendären Must Have für Hardcore-Punks aus den Kuhkäffern zwischen Konstanz und Kiel. Im Zap versammelten sich in den 90ern mit Moses Arndt, Martin Büsser (RIP) oder Karl Nagel die charismatischsten Linksfluencer ihrer analogen Zeit und versorgten die in konservativer Kuhgülle herumvegetierenden Kleinstadt-Krokodile mit einem Traum jenseits von Mercedes-Kombi-Mief und Herrengedeck beim Hallenhalma.

Musikalisch ohne Scheuklappen oder politische Dogmen, sezierte, kritisierte und feierte die Anarcho-Truppe das echte Leben im Falschen. Management Summary: Menschlichkeit first, Bedenken second – und der ehemalige Tomte-Sänger Thees Uhlmann sprüht das mit jeder Zeile seines dritten Soloalbums "Junkies und Scientologen" an die Wand. Keinen Moment lacht Papa Uhlmann im besagten "Avicii" von oben herab nach oben hinauf. Ganz im Gegenteil. Mr. T trinkt am Tresen und prostet dem verstorbenen DJ aus Schweden über Generationen hinweg zu: "Du wartest auf die Liebe / Und ich auf das nächste Bier / Der Platz am Tresen neben mir bleibt heute leider leer / Eine gute letzte Reise, zum Abschied leise winken / Elektronische Musik kann man sich so selten schöntrinken". Auf Facebook intensivierte er - trotz vermeintlicher Genre-Gräben – seine Sicht auf Avicii noch und dankte ihm für Melodien und Momente: "Avicii war der Geilste! Wie gerne ich das nachts in der Küche höre!".

Der Mann kennt eben seinen Marcus Wiebusch: "Egal, welchen Weg wir wählen, nur die Momente sind's, die zählen", und alle anderen wissen spätestens jetzt: Wenn melancholische Norddeutsche schon den Mund aufmachen, folgen empathische, ehrliche Ansagen. Überhaupt strotzt "Junkies und Scientologen" voller Ehrlichkeit zu sich und seinem altgewordenen Ich. Auf der einen Seite das Zap-Magazin, das das jugendliche Ausbrechen aus der Gesellschaft, den ewigen Revoluzzer und die erhobene Faust des Sängers symbolisiert. Auf der anderen Seite das kleine bisschen Heimat in Hemmoor, wo "der Highway noch B73 heißt" und man "evangelisch schlecht gelaunt seine Runden zieht". Thees weiß mittlerweile, dass er weder in Seattle noch in Detroit ist, oder wie es Poppa Wu einst auf Ghostface Killahs "Ironman"-Debüt philosophierte: "If you forget where you come from, you never make it where you going. Cause you’ve lost the reality of yourself."

Thees hat seine Realität nicht verloren, er hat sie vielmehr perfekt vertont. Wirkte er bei den ersten Soloalben manchmal noch etwas verloren oder verkrampft, schüttelt er nun locker, beschwingt, federleicht und selbstsicher die Hits und Punchlines aus den Ärmeln seines GHVC-Longsleeve. Der Opener "Fünf Jahre nicht gesungen" drischt wie das Team von Gaslight Anthem nach vorne und macht auch vor deren dezenten Geigen und warmen Bläsern nicht halt. Er ist wieder da - mit Betonung auf ER wie ES bei Stephen King – und er ist "so traurig wie die Söhne von Helmut Kohl". Das Herz ist jedoch rein, der Blick klar und der Ton bissig wie zu den Zeiten, als er mit Tomte noch als Vorband von EA80 durch die AJZs tourte: "Die große Frage Heiligabend / Wie erklärt man seinem Kind / Dass Männer nach 100.000 Jahren / Immer noch Affen sind". Es braucht manchmal nur einen Reim, um den Stand der Gesellschaft zu beschreiben.

Apropos Stephen King: Das folgende "Danke für die Angst" feiert den US-Autor und dessen wohliges Grauen aus der Kindheit. Musikalisch geht es mit Uptempo-Boogie vom Barhocker locker, während Thees bei der Reise durch Kings Romanfiguren die grandiose Zeile "Lange Bücher sind ein Zeichen für unstillbaren Durst" droppt. Spätestens jetzt steht auch die Zielgruppe der Platte fest: Die 70er-Jahrgänge. Die einen gruselten sich bei Stephen King, die anderen pinkelten sich in die Hose, wenn "the fog" drüben auf dem Hügel aufzog – aber alle suchten Halt in den fantastischen Büchern und "zerstörten" so ihr Leben.

Diese Mittvierziger sind mittlerweile die einzigen, die sich auch heute noch an die Chaostage und Fury In The Slaughterhouse gleichermaßen erinnern können, Ausgangspunkt für beide Symbole in Sachen Anarchotum und Angepasstheit: Hannover – Messestadt des Mittelmaßes. Wie kein anderer Song auf dem Album bewegt sich Thees "Was wird aus Hannover" zwischen Rebell und Rarebell. "Du hast über die Scorpions gelacht, doch die sind in Stranger Things. Was ist, wenn wir beide wie Hannover sind" - Hannover als Sinnbild für das ewige Scheitern beim Ausbruch aus verkrusteten Strukturen. Für den Realitätscheck, dass man seine Wurzeln nicht ändern kann, dass man aber freier ist, wenn man dies endlich akzeptiert. Akzeptiert, dass "zwischen Stammheim und Bundeskanzleramt" nur Schmetterlingsflügelschläge liegen und dass echter Liebe beides egal ist, wie Thees im welt- und menschenumarmenden Titeltrack offenlegt.

Er ist für alle da. "Editors-geschwängert vor allem ... für die müden Krankenschwestern, die vor der Lungenklinik rauchen", für mehr Hoffnung am Ende des Tunnels und immer wieder für Zap-Schreiber wie "Emil Elektroholer und seine Frau, sie leben im Haus, das nix vergisst und da wohne ich auch." Auch hier stand sein Freund Marcus Wiebusch Pate, der bereits mit seiner ersten Band But Alive jeglichen Revolutionsfantasien der linken Blase eine Absage erteilte: "Für was ich bin ... für ein besseres Leben der Hausfrau am Ende der Straße".

Langsam aber sicher beschleicht einen das Gefühl, dass Uhlmann wirklich auf Springsteen-Level agiert. Wie der Boss fühlt man sich ihm in allen Geschichten furchtbar nahe, aber erkennt auch die Distanz des Künstlers an. Das ist bei "100.000 Songs", der Schunkel-Version vom Hosen-"Liebeslied" so, bei der Lonesome-Cowboy-Ballade "Menschen ohne Angst wissen nicht, wie man singt" und erst Recht bei "Ich bin der Fahrer, der die Frauen nach dem Hip Hop-Dreh nach Hause fährt". Was wäre gewesen, wenn wir 1997 beim Wu-Tang-Konzert in der Großen Freiheit - statt über das Zap-T-Shirt "Vegetarians Do It Better" zu fachsimpeln - einfach beim Clan mit den Groupies in den Tourbus gestiegen wären? Man will es eigentlich gar nicht wissen. Zwischen Coolness und Sexismus liegt eben nur eine Bassdrum auf der Eins.

Oder ein frischgezapftes Pils. "Die Welt ist von sich selbst besoffen, aber ich bleibe beim Bier." Und so trinkt Thees weiterhin am Tresen als Last Man Saufend. Mal sitzt Klaus Meine neben ihm, mal Avicii, mal die erste Punkliebe, mal Marcus Wiebusch oder der Junkie von nebenan. Doch egal wie die Geschichten auch ausgehen, wenn der Wirt die letzte Runde einläutet, trinkt Thees wieder "alleine in der Stadt, einsam hinter dem Deich". Und das ist auch gut so, denn alle wissen nun nach "Junkies und Scientologen": "Wenn du singen kannst, dann singe, wenn du schreiben kannst, dann schreib". Nach fünf Jahren nicht gesungen, ist Nestbeschmutzer Uhlmann zurück gekommen um zu bleiben.

Trackliste

  1. 1. Fünf Jahre Nicht Gesungen
  2. 2. Danke Für Die Angst
  3. 3. Avicii
  4. 4. Was Wird Aus Hannover
  5. 5. 100.000 Songs
  6. 6. Ich Bin Der Fahrer, Der Die Frauen Nach Hip Hop Videodrehs nach Hause fährt
  7. 7. Junkies Und Scientologen
  8. 8. Katy Grayson Perry
  9. 9. Menschen Ohne Angst Wissen Nicht, Wie Man Singt
  10. 10. Ein Satellit Sendet Leise
  11. 11. Die Welt Ist Unser Feld
  12. 12. Immer Wenn Ich An Dich Denke, Stirbt Etwas In Mir

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LAUT.DE-PORTRÄT Thees Uhlmann

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12 Kommentare mit 13 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    voller sätze für die ewigkeit :cry: :cry:

  • Vor 4 Jahren

    Wenn ich 4/5 Punkte auf laut bekommen und für eine Woche König des Feuilletons sein will, nehme ich einfach einen Kalender mit nachdenklichen, besinnlichen Sprüchen. Die musikalische Begleitung schreibt sich dann von selbst.

    • Vor 4 Jahren

      365/24/7
      Ich würd mich jederzeit
      Wieder in dich verlieben
      Aber ich stimme deinen Freunden zu
      Lass es sein
      Denn Menschen wie ich
      Bleiben besser allein

      Ich habe alles versucht
      Es hat nicht gereicht
      Allein in der Stadt
      Einsam hinter dem Deich
      Gib' mir einen Stift und ein Zettel
      Und der Rest ergibt sich
      Das Leben ist kein Highway
      Es ist die B73

      ...

      Evangelisch schlecht gelaunt
      Zieh ich meine Runden
      So wird's bleiben
      Ich hab fünf Jahre nicht gesungen
      Lass uns noch einmal
      Zusammen schreien:
      Menschen wie ich
      Bleiben besser allein

      :cry: :cry: :cry:

    • Vor 4 Jahren

      Oha, krass viel Liebe für den Shoutout an die B73. Und Dir danke für den mehrfachen Hinweis, werde reinhören.

    • Vor 4 Jahren

      B73 represent!

    • Vor 4 Jahren

      Düdenbüttel, Buxtehude und der Mann mit den Mülltonnen - die B73 ist die Aorta, hier pulsiert das Leben, schlägt das Herz ̶n̶̶o̶̶r̶̶d̶̶n̶̶i̶̶e̶̶d̶̶e̶̶r̶̶s̶̶a̶̶c̶̶h̶̶s̶̶e̶̶n̶̶s̶ Deutschlands!

  • Vor 4 Jahren

    Bitte!!!! Nein!!!! Nicht auch noch Ihr!!! Den Springsteen-Vergleich hatte das "Visions"-Magazin schonmal gezogen... Was für ein hanebüchener Schwachsinn!! Ein paar salbungsvolle Texte reichen um Universen nicht aus, um das zu schaffen. Demnächst sagt noch irgendwer, Uhlmann schreibe mit seiner Musik am großen deutschen Roman... Kopf--> Tischplatte.

    • Vor 4 Jahren

      Die Platte ist halt genau von dem Kaliber, von dem man weiß, daß die deutschen Musikschreiberlinge sofort 4/5 Punkten vergeben und irgendwelche hanebüchenen Namedroppings machen wie "Lou Reed", "Bob Dylan" oder eben "Springsteen". Ist quasi ungeschriebenes Gesetz. Keiner von uns wird diese Alben jemals wieder hören, und streng genommen müssten die Rezensenten das nicht mal einmal machen. Sowohl die Musik als auch die Besprechungstexte sind so blutleer, daß beide sich von selbst schreiben.

    • Vor 4 Jahren

      der fairness halber... mir und meinem väterlichen freund (urgestein der mitteleurpäischen natur sekt black metal szene) gefällt das album sehr. und wir sind beim besten willen nicht die zielgruppe. mutmaßlich würde thees uhlmann, in dem wissen,dass ich seine musik mag, weitere 25 jahre nicht singen

    • Vor 4 Jahren

      Bitte lass es ihm wissen. BITTE!!!

    • Vor 4 Jahren

      Ach und ich vergaß. Ungehört weil unhörbar: 1/5. Was sonst.

  • Vor 4 Jahren

    Sehe das ähnlich wie Trickster, tolle erste & okaye zweite Hälfte. Insgesamt schöne Scheibe, auch als Tomte-eher-nicht-so-möger.

    Interessant, dass das mit Springsteen für manchen so eine unangemessene Heiligsprechung zu sein scheint. Ich würde mich zwar durchaus als Fan (vom Boss) bezeichnen, aber ganz ehrlich: So unereichbar super ist da vieles jetzt auch wieder nicht, gerade textlich ist er über weite Strecken mMn ein ziemliches one-trick-pony. Streets, tonight, auf gehts, dies, das.

    Zumindest mit Hannover & King-Hommage, Avicii und natürlich der B73 (♥) finde ich TU hier ganz ohne übertriebenes Waffengelaber durchaus konkurrenzfähig :)

  • Vor 2 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 2 Jahren

    Es ist authentisch, das gefällt mir. "Jeder muss was tun, um über die Runden zu kommen" , selbst Uhlmann. big fan