laut.de-Kritik

Eine historische Mogelpackung.

Review von

Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich meinen Vater weinen sehen. Ich konnte ja selbst kaum glauben, was ich am 9. November 1989 miterleben durfte. Aber da stand es wirklich, zuerst nur in nüchterner Laufschrift: "Die Mauer ist offen."

Gebannt saßen wir mitten in Hessen vor der Glotze, bis nach und nach endlich die ersten Bilder aus Berlin eintrudelten. Unsere Familie, die über 28 Jahre durch 3,60 Meter hohen Beton und einem Todesstreifen getrennt war, war von einem Moment auf den nächsten wieder eins. Wie es Politbüromitglied Günter Schabowski so nett ausdrückte: "Das tritt ... nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich."

Ganz Deutschland befand sich im Freudentaumel. Ein Gefühl, das sich später Geborenen kaum vermitteln lässt. Bereits drei Tage später, am 12. November 1989, organisierte der Sender Freies Berlin (SFB) das 'Konzert Für Berlin'. Jeder will bei diesem historischen Moment dabei sein. Entsprechend ließen sich innerhalb kürzester Zeit neben ost- und westdeutschen Stars sogar Joe Cocker und Melissa Etheridge für einen Auftritt auf der Bühne der Deutschlandhalle verpflichten. David Hasselhoff und die Scorpions hatten wohl keine Zeit. Die Prinzen gab es zum Glück noch nicht, und "Wind Of Change", die pfeifende Geißel der Wiedervereinigung, war noch nicht geschrieben.

Schon damals sollte eine Doppel-LP des Events, durch den der Fußballkommentator Stefen Simon als Moderator führte, erscheinen. Das Unterfangen scheiterte jedoch an Lizenzstreitigkeiten. 25 Jahre später schaffen es die Aufnahmen doch noch auf die CD "Mauerfall – Das Legendäre Konzert Für Belin '89".

Da der Zwist um die Rechte bisher jedoch noch nicht beigelegt wurde, schiebt man uns zu den Feierlichkeiten eben eine Mogelpackung unter. Der Einfachheit halber unterschlägt man uns Auftritte von Marius Müller-Westernhagen, den Toten Hosen, den Puhdys, Nena und anderen.

Die Stimmen verzerren, der Bass knarzt unschön aus den Boxen, der Sound ist eine einzige Matschepampe. Der ganze Mitschnitt versprüht den Charme einer Veranstaltung in der Aula der Gabriele-von-Bülow-Oberschule, auf der Steffen Simon ein Tischtennisturnier der Reinickendorfer Füchse moderiert. Dieses seltsame Ambiente durchfluten immer wieder die historischen Momente und Gefühle der damaligen Zeit, in denen der ehemalige Lockenkopf zum Beispiel bekannt gibt, dass soeben der Schießbefehl an der Mauer aufgehoben wurde.

Während Tamara DanzHeinz Rudolf KunzeUdo Lindenberg und Konstantin Wecker den Background-Chor zu "With A Little Help From My Friends" liefern, lässt Joe Cocker seine Hände munter im Takt der Mauerspechte schlackern. BAP geben zu reichlich Feedback und Mikrofonfiepen ihren damals noch gar nicht so alten Klassiker "Verdamp Lang Her" und vergessen vor lauter Euphorie das finale Gitarren-Solo. Nina Hagen erdolcht "My Way", und Melissa Etheridge bedankt sich feierlich und wünscht uns für die Zukunft Alles Gute: "As an American, I am very proud to be here at this time in history. But as a human being I wish you both – east and west – freedom und Freiheit – jetzt und für immer!"

Über die Chronologie des Abends setzt sich "Mauerfall – Das Legendäre Konzert Für Berlin '89" hinweg. Das wirkt spätestens in dem Moment skurril, wenn Udo Lindenbergs erster Auftritt nach seiner Krankheit angesagt wird, nachdem er vorher bereits "Horizont" zum Besten gab. Mit einem "Hallöchen, Freunde, Hallöchen" betritt er die Bühne. Hatte ihn während "Hör mich" von den Zöllnern eine Mittelohrentzündung erwischt? Angesichts des Beitrags der Ost-Berliner wäre dies verständlich.

Die nachdenklichen Stimmen kamen ausgerechnet von den befreiten Ost-Rockern. Andre Herzberg, Sänger der Band Pankow, stand der kritiklosen Begeisterung des Tages mit gemischten Gefühlen gegenüber: "Ich wollte so ein Stück Souveränität zurück haben. Ich wollte nicht, dass der Osten zum Westen geht, sondern der Westen zum Osten kommt und sich da freut, und der Osten selber die Freude der eigenen Mündigkeit ausdrückt." War wohl nichts.

Vor Deutschland lag in den nächsten Jahrzehnten ein langer Kater und ein zögerliches Zusammenwachsen, die neuen Bundesländer bluteten währenddessen langsam aus. Besonders hart traf es Silly, die nach der Wiedervereinigung den Weg ihres Landes gingen und erst in den letzten Jahren wieder auf die Beine kamen. Passend singt die inzwischen verstorbene Tamara Danz zum Abschluss des Albums: "Alles wird besser, aber nichts wird gut."

Trackliste

  1. 1. Joe Cocker - With A Little Help From My Friends
  2. 2. BAP - Verdamp Lang Her
  3. 3. Udo Lindenberg - Horizont
  4. 4. Die Zöllner - Hör Mich
  5. 5. Udo Lindenberg - Sonderzug nach Pankow
  6. 6. Udo Lindenberg - Wir Wollen Doch Einfach Nur Zusammen Sein
  7. 7. Heinz Rudolf Kunze - Die Offene See
  8. 8. Nina Hagen - My Way
  9. 9. Pannach Und Kunert - Der Tag An Dem Die Mauer Fiel
  10. 10. Melissa Etheridge - Testify
  11. 11. Konstantin Wecker - Die Weiße Rose
  12. 12. Pankow - Gib Mir'n Zeichen
  13. 13. Silly - Alles Wird Besser

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3 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 9 Jahren

    "Reinickendorfer Füchse": Coole Referenz, das freut den belesen User.

    Zur Platte: Eine Tracksliste aus der Hölle, fehlt nur noch Unheilig und Andreas Bourani. Dann bitte noch ein Skit von Xavier Naidoo, in dem er was über "Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches" und "Germanitien" labert.

    • Vor 9 Jahren

      "Eine Tracklist aus der Hölle" - du sagst es. Es gruselt mich tatsächlich wenn ich die Titel nur lese, wenn mich jemals jemad foltern wird, dann mit dieser Platte!

  • Vor 9 Jahren

    Die Zöllner verreisen - Fachkenntnis Null!

  • Vor 9 Jahren

    "Tracklist aus der Hölle" kann man wirklich unterschreiben. Eigentlich unglaublich, daß man es nicht nur nicht geschafft hat, ein fast 11stündiges Konzert ordentlich auf eine vernünftige CD-Länge (oder derer zwei) einzudampfen, nein, man muß auch noch die Reihenfolge sinnlos verdrehen und sich größtenteils die damals schon abgelutschten Gassenhauer raussuchen.
    Man hätt' ja auch eine kleine labelübergreifende Aktion starten können, um ein wenigstens ansatzweise respektables Bild dieses Tages zu zeichnen, aber anscheinend wollte man das nicht.
    Prädikat: besonders lieblos.
    Zwei Sterne dafür, daß man es nicht geschafft hat, die Atmosphäre dieser Veranstaltung vollends zu zerstören, und interpretatorisch gehen die allermeisten Sachen auch in Ordnung.
    Gruß
    Skywise