laut.de-Kritik
Brünstige Nashörner verhöhnen Superreiche.
Review von Dennis RiegerMüssen wir uns etwa um die beiden berühmtesten Vertreter der Ulrich-Dynastie sorgen? Bereits im vergangenen Jahr verursachte die Betitelung des 27. Studioalbums der Amigos ebenso wie Karl-Heinz' unorthodoxes Posieren vor Photoshop-Atlantis selbst in der hartgesottenen Schlagerwelt Stirnrunzeln. Ein Jahr später folgt nicht etwa ein Album mit einem marktkonformeren Titel wie "Unsere Liebe", "Grenzenlos" oder "Pure Lebensfreude". Stattdessen rufen die "Stimmen Der Nacht". Haben sich Bernd und Karl-Heinz der dunklen Seite des Schlagers zugewandt?
Rasch werden im Titeltrack alle unberechtigten Sorgen hinsichtlich musikalischer Veränderungen weggebumst. Verzeihung, das ist durchaus wörtlich zu nehmen! Der Stampfbeat setzt sofort ein, ehe die Retro-Synthies fröhlich quietschen und unsere beiden Lieblingsbarden verdeutlichen, dass man sich in der Schlagerschmiede Telamo auch in lyrischer Hinsicht an einer alten Adenauer-Doktrin orientiert: Keine Experimente! Die nokturnen Stimmen locken Bernd und Karl-Heinz nicht in den Finsterwald, sondern ins Nachtleben. Dort angekommen, trällern die Mittsiebziger nicht lange um den heißen Brei herum: "Du trägst schwarze Schuh' und ein Cocktailkleid / Mit 'nem Ausschnitt, der jeden Blick verzeiht." Ich hoffe im Sinne aller Beteiligten, dass auch die besungene Nachteule jeden karl-heinzschen Blick verzeiht, nicht nur ihr Ausschnitt.
In "SOS Im Paradies" berichten die Amigos nebst Billig-Drumcomputer und Käse-Synthies über eine längst vergangene, in exotischen Gefilden vonstattengegangene romantische Begegnung der explosiveren Art: "Die Funken flogen wie Kometen." Nur Karl-Heinz' im Musikvideo prominent platzierte Akustikgitarre bleibt wieder einmal stumm.
Die beiden erfahrenen Casanovas schwelgen allerdings nicht ausschließlich in erotischen Erinnerungen. Auch im Hier und Jetzt bleibt viel Zeit für Zärtlichkeit: "Baby Blue" entpuppt sich keineswegs als Dylan-Hommage, sondern als zielgruppenorientierter Bumsbeat-Schlager, bei dem nichts all over now ist. Mit der Grazie brünstiger Rhinozerosse umgarnen die Amigos die Damenwelt, bis einer der beiden Ulrichs mit einer Unbekannten "im Flammenmeer der Leidenschaft" landet ("Zwei Herzen Im Feuer"). Mitunter erhalten die nimmersatten Hessen bei ihrem munteren Treiben von unerwarteter Seite Schutz vor unerwünschten Blicken: "Vom Mann im Mond bewacht / Würd ich's nochmal riskier'n." ("Colorado Moon"). Um des schönen Reimes willen verzichten Bernd und Karl-Heinz auch mal auf einen Satzteil respektive ein Akkusativobjekt: "Die Zeit war schön, doch jetzt muss sie sich eingesteh'n / Allein nach Hause gehen" ("Die Rose Der Nacht").
Selbst Gestalten der Sagenwelt können sich den Reizen der Amigos nicht entziehen, wie die Ulrichs in "Küss Mich Medusa" – Komma und Ausrufezeichen gingen im Eifer des Gefechts offenbar verloren – freimütig erzählen. In einer Taverne beäugt der Großteil der Gäste das Erscheinen der Dame mit der ungewöhnlichen Haarpracht skeptisch: "Was will die falsche Schlange hier?". Unsere ebenfalls anwesenden, mythologisch halbwegs bewanderten Grands Hommes sind hingegen sehr angetan: "Sie ist wunderschön! / Schon ein echtes Phänomen! / Eine Göttin! / Ich will ihr nicht widerstehen." Sie ihm (oder beiden?) selbstverständlich auch nicht! Ein würdiger "Pharao"-Nachfolger der liebestollen Globetrotter! Da verzeiht man auch mal einen freudschen Versinger (oder eine kleine Produzenten-Gemeinheit), erstmalig nach genau einer Minute zu bestaunen ...
Trotz ihres unleugbaren Testosteronüberschusses finden die harmonieseligen Hungener auch noch Zeit für die platonische Liebe: "Die Tür Zum Elternhaus" bleibt offen, versichert Bernd Ulrich zum Klang einer (Pseudo-)Panflöte, die ebenso verdächtig nach Keyboard-Sound wie nach vielfrequentierten Fußgängerzonen der Republik klingt. Da freut sich der Nachwuchs!
Weitaus weniger wertkonservativ zeigen sich die Familienmenschen in "Auch Im Porsche Fallen Tränen". Bernd und Karl-Heinz berichten aus dem Leben eines Superreichen: "Er hat ein volles Konto / Eine gold'ne Uhr / Und sein Haus am Stadtrand / Das ist Luxus pur." Doch die Ulrichs verfallen nicht dem diskreten Charme der Bourgeoisie, sondern beobachten messerscharf den Seelenzustand des armen reichen Mannes am Steuer eines Stuttgarter Edelschlittens: "Aber eines hat er sich nie verzieh'n: Fährt er von der Arbeit heim / Wird er ganz alleine sein." So weit, so vorhersehbar, auf diese Weise kann man den Sozialneid des ein oder anderen Zuhörers unter dem Deckmantel der Empathie gegenüber einsamen (wohlhabenden) Menschen triggern, könnte man nun denken. Nur: Es existiert kein Deckmantel der Empathie. Der Stampfbeat, die fröhlich hüpfenden Synthies und der jubilierende Drumcomputer verhindern jegliches Mitgefühl gegenüber dem besungenen Herrn, verhöhnen ihnen gar. Die Amigos als dunkelrote Rächer des Proletariats? Das überrascht dann doch!
Andererseits: "Und Dann War Sie Verschwunden" spricht gegen die These, dass Bernd und Karl-Heinz die Kombination aus traurigem Text und fröhlich klingender Musik als bewusstes Stilmittel einsetzen, als seien sie die mittelhessischen Smiths. Der Song über Cybermobbing, das in Suizidgedanken einer Schülerin mündet, ist das, was man gemeinhin als 'gut gemeint' bezeichnet. Angesichts des üblichen sterilen Midtempo-Heile-Welt-Sounds wirkt das Lied nicht nur banalisierend, sondern auch zynisch – ganz so, als habe ein Mensch mit schwarzem Humor einer KI den Auftrag gegeben, einen todernsten Text mit der denkbar unpassendsten Musik zu unterlegen. Im rational-nutzenmaximierenden Hause Telamo scheute man einmal mehr hörbar Kosten und Mühen, um schnellstmöglich die neuesten Amigos-Songs auf den Teleshopping-Markt zu werfen. In 14 von 15 Fällen kann das niemand dem Label ernsthaft verübeln. Aber wer bitte nickte dieses Lied in der vorliegenden musikalischen Einbettung ab?
Abseits der Proletarier-Parabel über unglückliche Porsche-Fahrer und der zum Mitklatschen einladenden Suizidgeschichte gehen Text und Sound aber eine gewohnt stimmige (wenngleich geschmacklose) Symbiose ein. Böse Zungen mögen dazu "Jedes Mal dieselbe Qual!" sagen. Die Amigos selbst winken in "Nur Sieger Steh'n Im Licht", vordergründig ein Song über Spielsucht, mit dem Zaunpfahl, indem sie einen altbekannten Vorwurf subversiv in den Raum werfen. Wir sehen es hingegen positiv: Die Welt verdient mehr Liebe, Lust und lobenswerte Einstellungen gegenüber den Nächsten ("Ich halte dir den Rücken frei! / Was ist denn schon dabei?") und Schnöseln in Luxuskarossen! Ja, die Welt verdient mehr Amigos!
29 Kommentare mit 29 Antworten
"Sie ist wunderschön! / Schon ein echtes Phänomen! / Eine Göttin! / Ich will ihr nicht widerstehen."
Allah, wtf.
Poolmaterial
Singen die da über Alicia Keys?
Eher Jorja.
Auch Im Porsche Fallen Tränen feat. Christian L.
Ich frag mich ob heutige ü70er sich die Volksmusik der 90er zurückwünschen?
Darf ich mal sagen, nicht nur ist die Musik unbestritten großartig, auch eure Kommentare dazu sind sehr wholesome ♥
Gibt es schon bezahlte Amigos-Trolle?
Deutsche Ghostface & Raekwon
Wann kommt eigentlich der Amigos-Meilenstein für "Liebe und Sehnsucht"?
Das war seinerzeit der "next level shit" des deutschen Schlagers. Was "Reign in Blood" für den Metal, "It Takes a Nation of Millions to Hold Us Back" für den Hip Hop, "Thriller" für den Pop und Beethovens Neunte für die Klassik waren, war "Liebe und Sehnsucht" für den deutschen Schlager!