laut.de-Kritik

Beim Boss ist Soul kein angeeigneter Hipster-Luxus.

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Der Boss und die Soul-Musik - diese Kombi wirkt erst mal so beliebig wie Sänger X macht Weihnachtsalbum Y. Doch bei dem 73-jährigen Bruce Springsteen ist Soul kein angeeigneter Hipster-Luxus wie bei manchen, die das Genre erst mit Charles Bradley entdeckten. Schon beim überwältigenden "Do I Love You (Indeed I Do)" spürt man profunde Leidenschaft. Der Star aus New Jersey covert diese Musik nicht irgendwie narzisstisch runter, sondern lebt sie. Er versinkt in ihr, und unweigerlich landet man beim Zuhören selbst im intensiven Strom seiner Gefühle.

Während die ersten Tracks eher für Soul-Insider gemacht sind, neutral, zurückhaltend, enthüllt sich ab dieser vierten Nummer die emotionsgeladene Tiefe, mit der sich der smarte Entertainer ins Genre eingearbeitet hat. Als Patriot und Anwalt der Working Class und der Working Poor ist Soul für Springsteen am Rande auch Politik, wurde als Protestformat geboren. Das ist sein Ding. Die E-Street-Band war mit Clarence Clemons am Saxophon eh längst soulful.

Die Auswahl des bisher nicht als Soul-Fan bekannten Genre-Liebhabers umgeht jegliche Klischees, reiht sich nahtlos neben Joanne Shaw Taylors geniales und gefühlvolles Soul-Cover-Album aus diesem Sommer ein. Überraschend landet der Boss bei Jackie Shane. Jackie wurde als Mann geboren und identifizierte sich mit 13 als Trans-Mädchen, das war 1953. Zumal dunkelhäutig und mit Berufswunsch Schlagzeugerin, war das in Nashville alles andere als einfach. Noch bevor Jackie volljährig war, kehrte sie den Staaten den Rücken und zog ins kanadische Toronto. "Ich will never-ever eine Wischi-Waschi-Persönlichkeit sein, die irgendwas vorgibt oder sich von anderen führen lässt. Ich führe mein Leben. Es ist meins. Egal was andere sagen, werde ich Jackie sein. Das ist alles, was ich sein kann. (...) Es ist, was ich mit meinem Herzen und meiner Seele fühle", beschrieb Jackie Shane dem Sender CBC in einem Interview 2010, wo sie ihr Leben resümiert. Das dürfte die Zeit gewesen sein, als Bruce ihre Musik entdeckte. 2019 starb sie, gerade als ihre alte Musik neu veröffentlicht wurde, und Springsteen erwählt das ursprünglich leise, ruhige, langsame "Any Other Way" aus dem Jahr 1962. Er verwandelt die Nummer in eine schmissige Americana-Hymne mit ekstatischen Bläsersätzen und Blues-Gitarre, Steve Cropper lässt grüßen. Dieses Stück lässt sich ein bisschen abseits der restlichen LP betrachten, denn nur hier hört sich Springsteen einmal komplett nach sich selbst und seinen Wurzeln an.

Den Album-Titel verleiht eine Zeile des ehemaligen Curtis Mayfield-Kollegen Jerry Butler. Eine Mutter gibt ihrem von Liebeskummer verschlungenen Sohn einen Rat für seine Zukunft: "Only The Strong Survive"! Er soll sein Gefühlsleben in Griff bekommen und nach vorne schauen. Seine erste Beziehung ist zerbrochen, für ihn der Weltuntergang, "Somehow the whole damn thing went wrong", die ganze verdammte Sache scheiterte.

Vor einem zarten, dezenten Streicher-Hintergrund lässt der Rock-Renegade eine mächtige, satt gesungene Version vom Stapel. Sie taktet mit gesprochenem Wort auf, Bruce wird dann beim Gesang dann von einem Supremes-artigen Chor umschwirrt. Der E-Street-Bandleader steht mit seiner Stimme auf der ganzen Platte nicht alleine. Sein eingespieltes Team aus Michelle, Curtis, Soozie und Lisa bettet seine Stimme ein, zwei Herren (Fonzi Thornton, Dennis Collins) aus dem Popballaden-Soul-Milieu heuerte er zusätzlich an.

Rasch zeigt sich, dass "strong" das Zauberwort ist, an dem Springsteen Feuer fängt. Beim Vortrag mischen sich trotziges Fauchen und draufgängerischer Rock'n'Roll in seinen Gesang. So gut der Boss die Spannung auch aufbaut, dient der knappe Tune mit frühem Fade-Out 'nur' als Appetizer. Nachdem die "Soul Days ft. Sam Moore" eine Reihe maßgeblicher Namen verehrter Pioniere und Größen aufzählen, passend fürs Tribute an die Sixties, erinnert "Nightshift" an den Säulenheiligen Marvin Gaye. Beiden Coverversionen wohnt nicht wirklich was Neues inne. Wichtig ist vor allem die Inbrunst und Stimmfestigkeit, mit der unser Genre-Fremdgänger bei der Sache ist.

Bei "Do I Love You (Indeed I Do)" springt der Funke sofort über. Der Boss liebt diese Musik, verschmilzt mit ihr und macht uns mit Unbekanntem vertraut. Auch "When She Was My Girl" kennt man landläufig kaum, wodurch der nostalgische Entdecker sich die Nummer auf den Leib schneidern kann, E-Bass solo inklusive. Er krächzt Wörter wie "joy" und "lost" mit Biss und Lautstärke, wie man im Soul eher nicht singt, und es spricht nichts dagegen. Man fühlt richtig, wie das war, als sie SEIN Girl war und er das alle Leute auf der Straße spüren ließ. In halbhoher Steven Tyler-Tonlage gelingt ihm dieses besitzergreifende Sehnsuchts-Posaunen erneut beim wertvollen Beitrag "Hey, Western Union Man".

Jerry Butler, Autor des Titelsongs, schriebt auch "Hey, Western Union Man". Western Union nutzte man zu seiner Zeit für die Prä-WhatsApp-Mitteilungsform Telegramm. Sendete man jemandem per Boten eine solche kostspielige Kurznachricht, war es meist was Wichtiges und selten. Die andere Person war weit weg, und man hatte wenig Gelegenheit zum Kontakt. Dieses Setting und Feeling bringt Springsteen eins A so rüber, wie es gewesen sein mag: dieses sich Verzehren und Warten, ob man ein Lebens- und Liebeszeichen bekommt. Bruce dehnt das "yu-uh-uh-uh" in "Union" mit so viel Beben, Bangen, Bibbern, diesem Wunsch sich mitzuteilen, durchzudringen mit seiner Sehnsucht. Hier gibt's eine Parallele zwischen den meisten Figuren in all diesen Covers und seinen eigenen Song-Helden: "Die Charaktere, über die Springsteen in seinen Songs schreibt, sind Träumer, voller Hoffnung. Sie sind einsame Liebende, die nach jemandem suchen, der ihr Leben ein bisschen weniger schmerzhaft macht", analysiert die Studentin Madison Kuduk in ihrer Bachelor-Arbeit "Bruce Springsteen: Voice of the Working Class".

Ein paar Hits gibt es, "I Forgot To Be Your Lover", "What Becomes Of The Brokenhearted" (wo Springsteen mit Joe Cocker um die beste Version wetteifert), "The Sun Ain't Gonna Shine Anymore" (angesichts des Ursprungs-Schnulzes der Walker Brothers ein neugierig machender Griff in die Jukebox) und besagtes "Nightshift", einer der zeitlosen Hits der Commodores (bereits ohne Lionel Richie). In den USA hatten die Temptations mit "I Wish It Would Rain" einen regionalen Hit, an den sich noch einige Große, Ike und Tina Turner, Marvin Gaye und Aretha Franklin ran wagten.

Das Lied ist unkaputtbar schön. Die Bruce-Version pirscht sich mit so viel Feingefühl auf allen Ebenen an, dass man sich gleich rein legen möchte: Background-Chor, Klavier, akkurates Schlagzeug, die Streicher-Pizzicati, lockeres Rhythmus-Gespür für den backbeat, und maßgeblich, wie Springsteen in die Wörter vorm Heraus-Singen noch schnell reinbeißt und hohes Falsett-Level erklimmt. All diese Zutaten zusammen bannen, faszinieren. Man bleibt dran, fühlt sich perfekt unterhalten.

"The Sun Ain't Gonna Shine Anymore" war und ist Kitsch aus den Kategorien 'Blue-Eyed Soul'/Easy Listening, Bruces Stimme passt verblüffend gut auf Cello und Geigen. Rob Mathes dirigiert, der zuletzt Shaggys Sinatra-Album geschmackvoll auf Broadway trimmte. Auf den honigsüßen Harmonies klebt Springsteen nicht fest, der altmodische Tune, (den zu hören es mich in Erinnerung ans Original eher ekelte) wirkt plötzlich flüssig und zeitgemäß.

"I Forgot To Be Your Lover", eine Reflexion über eigene Fehler, jedenfalls in dieser Fassung, erscheint in einer sehr introspektiven Version. Die langsame Interpretation setzt ebenfalls auf Streicher. Schlüsselwort wird das von Springsteen gedehnte und vor sich hin geseufzte "so-ho-ho-o-orrrrry", sehr viel expressiver und theatral ausbuchstabierter als bei William Bell. "What Becomes Of The Brokenhearted" hält sich in der Stimmung und stimmlich an Cocker und bietet dem Massenpublikum einen Haltepunkt in der Selection, klingt das Lied in dieser Form doch schnell vertraut.

Der Weltstar nutzt seine enorme Reichweite, seine fünf Millionen Spotify-Follower und sein Renommée als Autor eigener machtvoller Songs auf beachtenswerte Weise für die klein gewordene Nische des 'echten' Soul. Einer der strahlenden Pluspunkte des Albums liegt in der Intensität, mit der der Sänger bei der Sache ist. Er fühlt sich in die Protagonisten der Liedtexte ein. Er ist in Gedanken ganz klar nicht bei der nächsten Insta-Story, die er dazu zu machen müssen glaubt, sondern into it, nach dem Motto: 'Ihr hört euch das jetzt an, weil es mir gefällt und Spaß macht, und es gibt keinen Grund abzuschalten.'. Die E-Street-Musikerinnen und Musiker und ihr Chef haben offenbar hart an dieser Platte gearbeitet, sich viele Gedanken gemacht und alle Liebe dieser Welt da rein gesteckt.

Trackliste

  1. 1. Only The Strong Survive
  2. 2. Soul Days ft. Sam Moore
  3. 3. Nightshift
  4. 4. Do I Love You (Indeed I Do)
  5. 5. The Sun Ain't Gonna Shine Anymore
  6. 6. Turn Back The Hands Of Time
  7. 7. When She Was My Girl
  8. 8. Hey, Western Union Man
  9. 9. I Wish It Would Rain
  10. 10. Don't Play That Song
  11. 11. Any Other Way
  12. 12. I Forgot To Be Your Lover ft. Sam Moore
  13. 13. 7 Rooms Of Gloom
  14. 14. What Becomes Of The Brokenhearted
  15. 15. Someday We'll Be Together

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