Die britische Hip Hop-Szene ist ein schwer zu fassendes Phänomen: Neue Sub-Genres schießen wie Pilze aus dem Boden, schwappen in ihrer Blütezeit über den Kanal, verpassen dem geneigten Publikum in Europa und jenseits des großen Teiches wahlweise Inspiration, einen amtlichen Tritt in den Hintern oder beides, und gehen dann oft weitgehend spurlos in der nächsten Strömung auf. Um den knochenbrechenden Wahnsinn Britcore dingfest zu machen, bedarf es einer Zeitreise zum Beginn der 90er Jahre. Open up wicked brrraindoors!

Oh, einen kleinen Moment noch: Vielleicht bewegen wir uns noch ein wenig weiter zurück. Im Jahr 1986 nämlich legt Simon Harris den Grundstein für das Label, das später die Marschrichtung vorgeben soll. Eigentlich handelt es sich eher um ein Steinchen: Der ursprüngliche Plan sieht vor, auf Music of Life Compilations mit US-amerikanischem Hip Hop zu veröffentlichen. Die Not in Gestalt von Material- und Geldmangel erweist sich als Segen: Music of Life konzentriert sich gezwungenermaßen auf einheimische Hip Hop-Acts und manövriert sich damit in eine Vorreiterposition.

Der Trend der Stunde: Hard, harder, hardest hardcores. Das Tempo zieht an, deutlich über 100 Beats per Minute sind Standard. Harte Beats, ausufernde Percussion-Breaks und exzessive Scratch-Orgien dominieren einen kompromisslosen Sound, den inflationär eingestreute Samples und Sprachfetzen noch dichter erscheinen lassen. Ganz im Gegensatz zum anderswo florierenden Gangsta-Rap, der oftmals Bling-Bling, Sex, Drogen und Gewalt glorifiziert, übt die düster-militante britische Spielart harsche Sozialkritik.

Gunshot, The Criminal Minds, Hijack, Killa Instinct ... Allein die Namen lassen vermuten: Hier werden keine Gefangenen gemacht. Derbe und dreckig dreschen Hochgeschwindigkeits-MCs wie Silver Bullet auf die Zwölf, während die Beats reihenweise Genicke zermalmen. Brachialkrach und aggressive Reime grenzen die neue Strömung nach außen gegen den übermächtigen Einfluss aus dem Mutterland des Hip Hop, aber auch innerhalb Großbritanniens gegen weit zahmere Acts ab. Urplötzlich erlebt Hip Hop einen immensen Zulauf von Kids mit Punk- und Hardcore-Background. Gunshots MC Alkaline erklärt rückblickend: "Es war das Headbanging-Element. Zu dem Zeug konntest du springen."

Bei Music of Life erkennt man die Zeichen der Zeit. Zwischen 1987 und 1990 präsentiert die Sampler-Reihe "Hard As Hell" Querschnitte aus dem Label-Programm. Ohne großes Risiko schafft man so auch bis dato unbekannten Künstlern eine Plattform. Neben etlichen anderen verzeichnet Overlord X mit "Let There Be Rock" so sein Aufnahme-Debüt. Neben Hardnoise (aus denen später Son of Noise hervorgehen), Killa Instinct und First Frontal Assault stehen auch Hijack bei Music of Life unter Vertrag, und das noch ehe ein Ice-T auf die Qualitäten der Truppe aufmerksam wird.

1990 erschüttert "Battle Creek Brawl" von Gunshot die Insel. Die Wellen spürt man bis nach Europa. Noch Jahre später bekommen die Herren der französischen Crew NTM bei bloßer Erwähnung der Nummer glänzende Augen. Auch in der Schweiz, besonders aber im Norden Deutschlands fällt britischer Hardcore-Hip Hop auf fruchtbaren Boden. Britischer Hardcore-Hip Hop: eine Bezeichnung, so sperrig wie der beschriebene Sound. Abhilfe schafft MZEE-Chefredakteur Ralf Kotthoff: In einer Ausgabe seines Fanzines stellt er die führenden Figuren der Szene vor und versieht das Ganze mit dem markigen Etikett "Britcore". Zumindest im deutschen Sprachgebrauch hat das Kind einen Namen.

Wie gesagt: Deutschlands Norden steht parat. Britcore erfreut sich hier nahezu größerer Beliebtheit als in seinem Ursprungsland. Die Zeit ist reif für Formationen wie Readykill, Mental Disorda und die Crew um DJ Stylewarz, No Remorze. Letztere zeichnet sich durch besondere Scharfzüngigkeit aus. In ihren Lyrics schrecken No Remorze nicht davor zurück, unpopuläre heiße Eisen anzufassen: Mit Brachialgewalt wird Stellung bezogen, Sexismus und Kindesmissbrauch angeprangert.

Gunshot erleben ihren Zenit 1993. Mit "Mind Of A Razor" landen sie einen hämmernden Clubhit. Sie kooperieren mit Napalm Deaths Bassisten Shane Embury. Im gleichen Jahr legen sie nach etlichen Singles den ersten Longplayer "Patriot Games" vor. An einem zweiten Album wird gefeilt, die Realisierung scheitert jedoch. Der Nachfolger "Twilights Last Gleaming" erscheint erst 1997.

Zu diesem Zeitpunkt ist das kurzlebige Experiment Britcore jedoch bereits weitestgehend Geschichte. Die Schwerpunkte von Fans wie Künstlern verlagern sich. Labels sterben. Jungle kommt auf, das harte britische Hip Hop-Lager verliert Klientel an die Drum'n'Bass-Gemeinde. Die Spuren der meisten Britcore-Combos verlieren sich in den Nebeln des Vergessens. Unverhofft auf den Plattenteller geworfen, verfehlt "Mind Of A Razor" allerdings auch mehr als zehn Jahre nach Erscheinen seine Wirkung nicht. Die Reaktionen reichen von völliger Verständnislosigkeit bis zu heller Begeisterung: Spurlos geht das Spiel mit dem Krach niemals über die Bühne.