Klangmalen nach Zahlen? Musik als Rechenaufgabe? Jessas, da hat man die jahrelange Tortur bis zum Mathe-Abi einigermaßen überwunden und wähnt sich vor den Fängen der Algebra in Sicherheit, da geht die Kurvendiskussion von vorne los.
Wollen einem Adam Riese, Pythagoras und andere Hirnies zu allem Überfluss auch noch ins letzte Refugium hineinpfuschen, dass man gerade ob seiner Irrationalität so lieb gewonnen hat? In der Tat muss man schon um die Ecke denken können, um mit der akustischen Variante der Polynomdivision warm zu werden.

Doch jeder Metal-Fan, der progressiven Entwicklungen in seinem Metier nicht abgeneigt ist, stolpert früher oder später zwangsläufig über die Stilblüte namens Mathcore (auch Chaoscore genannt). Dieses Subgrenre setzt sich aus Post-Hardcore, Extreme Metal sowie Einflüssen aus Jazz Fusion, Industrial Metal, Progressive Metal, Metalcore und Death Metal zusammen und feierte seine fröhlichen Urstände Anfang der 90er Jahre in den USA.

Bands wie Botch, Coalesce, Kiss It Goodbye, Rorschach und frühe Cave In besannen sich der alten Pioniertradition und machten sich auf zu neuen metallischen Ufern. Sie rissen Genregrenzen ein und warfen alles über den Haufen, was ihren Horizont mit Takt- und Strukturvorgaben einschränkte. Die prominentesten Mathcorebands von heute sind The Dillinger Escape Plan, Meshuggah, Norma Jean, Textures und Converge.

Der Mathcore stellt allein aufgrund der krummen rhythmischen Grundausrichtung extrem hohe technische Anforderungen an die Musiker. Üblicherweise wird der Sound von dissonanten Riffs, komplexen Taktschemata und scheinbar ungreifbaren Songstrukturen geprägt. Der gerade 4/4-Takt ist charakteristischerweise tabu, und wird lediglich pointiert als Kontrast zu den vorwiegend vertrackten und verschachtelten Metren eingesetzt, um dem Hörer zumindest für Sekundenbruchteile Zeit zu geben, einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen. Unterm Strich wird die Nachvollziehbarkeit der musikalischen Darbietung aber eher klein geschrieben.

Der Gesang ist in der Regel in gutturalen Niederungen angesiedelt (Meshuggah) oder gipfelt in hochtourigen Stimmbandmassakern (Converge). Es ist daher fast müßig zu erwähnen, dass der Versuch, die Texte zu verstehen für gewöhnlich zum Scheitern verurteilt ist. Kein Wunder, dass lyrische Feinheiten auf der Strecke bleiben, wenn der Sänger wahlweise animalisch grunzt, gurgelt oder schreit wie eine abgestochene Sau. Dass die "Stimme" oftmals noch durch einen Verzerrer gejagt wird, macht das Entzifferungsspielchen auch nicht gerade einfacher.

In typischen Mathcore-Arrangements ist die banale Strophe-Refrain-Struktur absolut verpönt und auch bezüglich der Songlänge bewegen sich die wahnwitzigsten musikalischen Herausforderungen seit Beethovens Neunter auf einer Zeitskala von wenigen Sekunden (The Locust) bis weit über die 10-Minuten-Grenze hinaus (Meshuggah).

Die Halbwertszeit dieser rechtwinkligen, akustischen Signale ist selbstredend etwas länger als beim handelsüblichen Konservenpop. Um frühzeitige geistige Umnachtung und Knoten in den Denkapparaten unvorbelasteter Hörer zu vermeiden, sei zum schonenden Einstieg ausdrücklich die Hürde über den Progressive-Rock der Marke Tool und Oceansize empfohlen. Man durchschwimmt ja auch nicht gleich den Ärmelkanal, wenn man sich gerade erst ungelenk das Seepferdchen für die Badebuxe erplanscht hat.