laut.de-Kritik

If it ain't Madness, it ain't worth a fuck!

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Hochverrat! Im Spätsommer des Jahres 1979 versetzt eine Nachricht unzählige britische Teenager in Schockstarre: Die jungen Ska-Überflieger Madness wechseln nach nur einer Single ("The Prince") vom Kult-Label 2-Tone zur Industrie. Dabei waren sie doch in kaum mehr als ein paar Monaten mit der Band The Specials zu eineiigen Zwillingen zusammen gewachsen.

Die Aufregung basiert auf der Furcht vor dem Ende einer Vision. Das von Specials-Vordenker Jerry Dammers 1978 als Spaßprojekt gegründete Independent-Label 2-Tone mit schwarz-weiß kariertem Logo entwickelt sich zu einer neuen Identität für eine ganze Generation. Kids aus der britischen Arbeiterklasse, die auf (Trojan-) Reggae und Jamaica-Ska abfahren, tanzen den aufblühenden Rassismus der National Front-Partei nieder. Sie tun dies mit neuem Dresscode: Fred Perry-Shirts, schwarz-weiße Anzüge, dünne Lederkrawatten, runde Pork Pie-Hüte, Dr. Martens-Stiefel, Loafers.

Die Enttäuschung über den Label-Abgang der Nordlondoner dürfte nicht lange angedauert haben: Zu ansteckend die Songs, die Madness im Oktober 1979 auf ihr Debütalbum "One Step Beyond..." packten, zu deutlich die offengelegte Brüderschaft mit den Specials und den Selecter auf der gemeinsamen, aus heutiger Sicht historischen 2-Tone-Tour. Jedes der 40 Konzerte ausverkauft, anarchische Zustände, hier und da Ausschreitungen, BBC und Top Of The Pops werden hellhörig, sogar Mick Jagger kommt vorbei.

"Ich erinnere mich, als ich einen Scheck über 30.000 Pfund bekam, was nach wie vor und in jeglicher Hinsicht eine große Menge Geld ist. Aber damals war es wie ein Scheck über drei Millionen", denkt Sänger Suggs zurück an den plötzlichen Ruhm, den dieser Hype-Wirbelsturm mit sich brachte.

Im Gegensatz zu den genannten Bands hielten Madness dem frühen Erfolg stand und veröffentlichten in den frühen 80ern weitere hervorragende Alben (übrigens auf Stiff Records, einem später auch Legende gewordenen Label mit dem Button-Slogan "If It Ain't Stiff, It Ain't Worth A Fuck"). Auch weil sie sich auf den Platten ab "Absolutely" (1980) zusehends vom reinen Ska-Beat verabschieden, spricht man bis heute über "One Step Beyond..." vom einzigen Ska-Album der Band. So oder so: Die Scheibe ist ein unsterblicher Klassiker, vergleichbar mit dem Clash-Erstling oder natürlich mit "Specials".

Der kreative Wettstreit mit den Jungs aus Coventry um das bessere Studioalbum sollte sich für uns Hörer in ähnlicher Pracht auszahlen wie es in den 60ern bei den Beatles und den Beach Boys ("Sgt. Peppers" vs. "Pet Sounds") oder in den 90ern bei Blur und Oasis ("The Great Escape" vs. "(What's The Story) Morning Glory?") der Fall war. Wo die Specials mit dem Cover "A Message To You Rudy" dem vergessenen Jamaikaner Dandy Livingstone huldigten, nahmen sich Madness den Säulenheiligen Prince Buster vor: "The Prince" trägt den Namen des Idols schon im Titel. Der Song "One Step Beyond..." zeigt exemplarisch, worum es den sechs jungen Wilden geht: einen großartigen Song der 60er Jahre von der Chill-Ecke auf die Tanzfläche zu ziehen.

Madness-Trompeter Chas Smash, der zu Beginn ausnahmslos als Ansager und Tänzer fungiert und daher auch nicht auf dem legendären Duck-Walk-Cover vertreten ist, kommt auf die Idee des Song-Intros ("Hey you, don't watch that, watch this / This is the heavy heavy monster sound"), der die prahlerische Geste der jamaikanischen Soundsystem-Ära nachstellt. Die Zeile "Don't watch that, watch this" rekurriert darüber hinaus auf den Prince-Buster-Song "The Scorcher".

Das Album feiert wie wenige andere die Leichtigkeit und Unverfrorenheit der Jugend in all ihren Ausprägungen. Nie mehr traf der Bandname später derart den Kern. Neben dem frenetischen Titelsong verfrachten Madness in zehn läppischen Aufnahmetagen sogar die Tschaikowski-Sinfonie "Swan Lake" in den Moshpit, singen von Tarzans Nüssen und machen sich im Video zu "Night Boat To Cairo" über das koloniale Gebaren des British Empire lustig. Ausgerechnet dieser ungewöhnlich strukturierte Song ohne Refrain wird zu einem ihrer größten Erfolge. Auch Versatzstücke aus Motown und 50s-Rock'n'Roll fügten sich in den selbstgewählten Nutty Sound harmonisch ein.

Die ohne Scham zur Schau gestellten Albernheiten der Gruppe überdeckten dabei lange ihr eigentliches Songwriting-Talent. Dabei konnte man in der naiven Leichtigkeit von "My Girl" oder "Believe Me" bereits die hinter den beschwingten Piano-Akkorden und Saxophon-Einlagen lauernde Zeitlosigkeit und Melancholie erahnen, der spätere Alben in weit größerer Leidenschaft frönen sollten.

"Lange sah man in uns einen einzigen Scherz. Wir bekamen nie einen Award. Das erste Madstock war wie ein riesengroßes 'Fuck You' an die gesamte Musikindustrie", erinnert sich Drummer Woody Woodgate an den Beginn der zweiten Madness-Karriere Anfang der 90er Jahre. Neben den großen Single-Hits der Platte gehen Highlights wie das kurioserweise als Single verschmähte "Bed And Breakfast Man" oder "In The Middle Of The Night" gerne unter, mit Ausnahme des Live-Klassikers "Madness" vielleicht, abermals ein Prince-Buster-Cover und die B-Seite von "The Prince".

Aus heutiger Sicht erscheint die in den 80ern hitzig geführte Diskussion, warum Madness mit Hit-Singles wie "Our House" oder "Wings Of A Dove" keinerlei Ska-Beats mehr verwendeten, recht antiquiert. "Wir wollten nie eine Ska-Band sein, wir hatten einfach nur ein paar Ska-Songs in unserem Repertoire. Und das ist bis heute so", formulierte Sänger Suggs 2009 im Interview.

Praktischerweise hatte sich mit der Hinwendung zu melancholischem Pop auch ein anderes Ärgernis erledigt: "In den 80ern hatten wir mit dem Problem zu kämpfen, dass ein sehr geringer Teil unseres Publikums nicht nur kurze Haare hatte und sich amüsierte, sondern auch grässliche Weltanschauungen mit sich herum trug. Diese Leute sind - Gott sei es gedankt - längst verschwunden. Ich fand es immer toll, Menschen zu sehen, die die Ska-Musik lieben und gleichzeitig die Mode."

2012 spielten Madness im Rang von nationalen Heiligtümern bei der Schlussfeier der Olympischen Sommerspiele in London neben den Pet Shop Boys und einem anderen ihrer Idole: Ray Davies von den Kinks. Anfang der 80er war Pet Shop Boys-Sänger Neil Tennant noch Musikjournalist beim Magazin Smash Hits und interviewte Sänger Suggs. Auf die Frage, wie seine Zukunft aussehe, antwortete der Madness-Sänger: "Ich werde mit 30 sicher nicht mehr albern auf der Bühne herumspringen." Schön, wenn das Alter noch die ein oder andere Überraschung bereit hält.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. One Step Beyond...
  2. 2. My Girl
  3. 3. Night Boat To Cairo
  4. 4. Believe Me
  5. 5. Land Of Hope & Glory
  6. 6. The Prince
  7. 7. Tarzan's Nuts
  8. 8. In The Middle Of The Night
  9. 9. Bed And Breakfast Man
  10. 10. Razor Blade Alley
  11. 11. Swan Lake
  12. 12. Rockin' In Ab
  13. 13. Mummy's Boy
  14. 14. Madness
  15. 15. Chipmunks Are Go!

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