Seite 1 von 26

Propaganda für Anfänger

"Der Mannheimer Stadtrat Julien Ferrat zeigt in seinem neuen Rapsong 'Dieser Konflikt' ein Abtreibungsvideo", bekam ich vergangene Woche per Pressemitteilung mitgeteilt. Zusammen mit ausgewähltem Bildmaterial. Lecker, da kriegt man so richtig Lust auf den Clip.

Ich hätte mich besser abschrecken lassen. Ich hätte mir knapp vier Minuten wertvolle Lebenszeit gespart. Die enthaltenen drastischen Szenen, auf die ich unentwegt mit der Nase gestoßen werde, stellten gar nicht das Problem dar. Noch viel saurer als Umstand, dass der Kerl so unterirdisch rappt, dass ich das Wort "rappen" dafür nur widerstrebend über die Tastatur bekomme, noch wesentlich saurer als die billige Produktion samt einfallsloser Klischeereiterei (tragisches Klavier!), viel, viel saurer noch stößt mir die selbstherrliche Bigotterie auf, mit der diese sogenannten Lebensschützer immer auftreten. Ekelhaft.

Den Plot des Clips hätte ich auch so vorhersagen können. Mädchen wird ungewollt schwanger, erwägt eine Abtreibung, blutige Bilder, dann Eierkuchenende: Natürlich kehrt sie in die Arme ihrer natürlich verständnisvollen Familie zurück, bringt natürlich ein natürlich gesundes Baby zur Welt, und alle leben glücklich bis an der Welt Ende. Natürlich. Ich erspare euch das an dieser Stelle. Wer unbedingt möchte: Den Clip gibts hier.

Ich mag mir gar nicht ausmalen, was diese auf die Tränendrüse drückende Moralkeulenschwingerei bei einer jungen Frau anrichtet, die vor der Entscheidung steht, ein Kind auszutragen oder eben nicht. Vielleicht hat sie keine verständnisvollen Eltern. Vielleicht ist ihr Leben tatsächlich ruiniert, mit einem Baby. Vielleicht empfindet sie es auch nur so, worin bestände der Unterschied? Vielleicht sprechen medizinische Gründe gegen eine Schwangerschaft? Vielleicht ist die auch das Resultat einer Vergewaltigung? Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Allen unzähligen denkbaren Möglichkeiten begegnen radikale Abtreibungsgegner mit der gleichen Einstellung: Das Leben dieses ungeborenen Babys ist mehr wert als das der Mutter. Beendest du es, Schlampe, bist du eine Mörderin. Fertig.

Schlimm genug. Eine Woche nach der ersten folgte eine zweite Pressemitteilung: "Rapper spricht über Presseecho". Auch hier regen wir uns jetzt ausnahmsweise nicht darüber auf, dass sein "Label" Entertainment Records diesen Nixkönner schamlos einen "Rapper" nennt. Auch nicht, dass ich für "Presserückfragen" die Adresse des Mannheimer Rathauses und eine Mailadresse @mannheim.de angeboten bekomme. Ist das Usus, in Stadträten, seine hobbymäßigen Umtriebe über die offiziellen Kanäle zu streuen?

Egal! Viel mehr kotzt mich hier an, dass der "Rapper" beim "Sprechen über das Presseecho" mal eben zu erwähnen vergessen hat, dass das fast ausnahmslos negativ ausgefallen ist. Schön, dass die Kollegen bei Bento und Brigitte auch gleich andere Lines von Ferrat ausgegraben haben, die ganz hübsch illustrieren, wie es um dessen Frauenbild bestellt ist: "Ich hab' ein großes Selbstbewusstsein und steck' mein Ding in jedes Loch rein. Ich bin Mannheimer Stadtrat und bang' die Bitches jede Nacht hart."

Interviews mit Julien Ferrat entlarven zudem viele seiner Aussagen als bloße Behauptungen und/oder Hörensagen. So behauptet Ferrat: "Von vielen wird eine Schwangerschaftsunterbrechung inzwischen als Verhütung 2.0 angesehen." Er kennt aber weder die hierzulande seit Jahren rückläufigen Abtreibungszahlen noch auch nur einen einzigen Fall, in dem eine Frau sich die Entscheidung derart leicht gemacht hätte. "Es geht um Ethik", sagt er. Ein Problem damit, einen Embryo, seiner Ansicht ja ein vollwertiger Mensch, zu Schockzwecken vorzuführen, hat er aber offensichtlich nicht. Woher die verwendeten Abtreibungsszenen stammen, weiß er darüber hinaus auch nicht, scheint ihn aber auch nicht groß zu interessieren. Statt dessen sonnt er sich im Zuspruch von Klaus Günter Annen, der sich das Recht, Abtreibungen als "Babycaust" bezeichnen zu dürfen, vor Gericht erstritten hat. Na, danke.

Inzwischen hat Julien Ferrat auch noch mit einem Reaktions-Video reagiert, das die kritischen Stimmen ebenfalls weitgehend unter den Tisch kehrt. So funktioniert Propaganda, meine Damen und Herren:

Seite 1 von 26

Weiterlesen

4 Kommentare