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"Der Tag, an dem Er Selbst mir die Tränen abgewischt" vs. "для FOR"

Das Buch: Kenzaburo Oe - "Der Tag, an dem Er Selbst mir die Tränen abgewischt"
Das Album: Kate NV - "для FOR"

Warum passt es?

Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mit Kenzaburo Oe auf Anhieb Freund war. Als uneinsichtiger Wee-A-Boo hatte ich schon ein paar japanische Lieblingsautoren und war gespannt auf den Nobelpreisträger mit den extrem sperrigen Titeln. Auch, wenn andere Texte wie "Stille Tage" mir von ihm dann doch besser gefielen, hat sich die Erfahrung mit "Der Tag, an dem Er Selbst mir die Tränen abgewischt" eingeprägt. Vielleicht, weil der Text ein Downer sondergleichen und extrem desorientierend geschrieben ist - und ich irgendwann, mühselig bei der Hälfte angekommen, verstanden habe, was ich daran mochte und warum ich ihn überhaupt noch las. Ich will nichts vorwegnehmen, aber die surreale Verschränkung eines extrem unverlässlichen Erzählers im Angesicht des Todes vermischt die Begegnungen der Menschen mit ihm durch historisches Erbe, Therapie, Psychoanalyse und reine Umgänglichkeit. Es ist ein sperriges Buch über das Zugehen auf einen Menschen, der Einiges mitgemacht hat.

Irgendwie habe ich deswegen auch schnell aufgegeben, wie sonst meine City Pop-Alben auf jeden japanischen Roman zu werfen. Oe ist ein Autor für Ambient und IDM, und ganz besonders "для FOR". Das 2018 von Kate NV veröffentlichte Album, geht überraschend gut Hand in Hand mit dem Text. Vielleicht, weil es so steril und stimmungslos ist. Es erlöst den armen Erzähler von allem angedichteten Empfinden von Tragik und Griesgrämigkeit und hält das Buch im Rahmen dessen, das es ist: ein Akt des Erinnerns. Witzig, dass es im Gegensatz zu fast allen anderen Empfehlungen dieser Liste also eine ganz andere Funktion einnimmt. Während andere Alben die emotionalen Effekte der Bücher vertiefen oder intensivieren, muss dieses Album leisten, dass wir nicht in kulturelle Fallen oder Missverständnisse tappen, indem wir dem Erzähler emotionale Regungen andichten, die nicht unbedingt so stattfinden. Die kühle Stoik dieses Tandems macht den Text auf eine schräge Art und Weise zugänglicher.

Leseprobe:

Was er im Schlaf herausgeschrien hatte, wurde demnach zwar identifiziert; die Tatsache jedoch, nämlich, dass er im Schlaf zu schreien pflege, war so nicht aus der Welt zu schaffen; vielleicht lag das daran, dass nicht er selbst die Sache aufgedeckt hatte. Er habe danach gelegentlich sogar noch heftiger geschrien, erklärte eine weitere Person aus dem Kreis derer, die sein Bett umstehen.

Nun gut, meinte er, werde ich dich also künftig die Pflegerin nennen. Womit er den Grund legt zu einem unumgänglichen Kompromiss, der die Protokollantin entlasten soll. Es fing damit an, dass sie ihn mitten im Diktat unterbricht: Weißt du, noch jedes Mal wenn ich als diejenige, die die Worte wirklich hinschreibt, begreife, da ist die Pflegerin gemeint, habe ich beste Lust, auch "Pflegerin" zu schreiben; ungeachtet deiner unbestimmten Ausdrucksweise, mit der du den Begriff "Pflegerin" vermeidest. Sagt die Testamentnotarin. Ja, wie denn? Er zeigt ein leichtes Missfallen. Willst du mir etwa zu verstehen geben, dass du, mag ich erzählen, was auch immer, nicht imstande bist, deine eigenmächtigen Wünsche zu unterdrücken, die Dinge, die du glaubst, so hinzuschreiben, wie du sie glaubst? Und ich benutze doch absichtlich schon die dritte Person, einfach um das Protokollieren zu erleichtern! Sagt er. Doch die Testamentsnotarin erwidert hierauf nichts. Dies alles trägt nur noch mehr zu seiner Unlust bei, die bereits protokollierten Texte durch die mit grünem Zellophanpapier verklebte Unterwasserbrille zu überlesen. Vielleicht steht da ja nun in diesen Papierbündeln von seinem gründlichen Diktat nichts mehr, ohne dass es verwässert wäre durch eine Lösung aus Unbestimmtheiten, nicht wahr? Na schön, aber was eigentlich gedenkst du umzuschreiben an einem Text, der von der spezifischen Vergangenheit eines dir völlig fremden Menschen berichtet? Sagt er. Und die Testamentsnotarin: An dem, wie mir diktiert wird, korrigiere ich kein Wort, keine halbe Zeile; nur möchte ich dich bitten, benutze doch zum leichteren Mitschreiben die allgemein üblichen Nomen, also zum Beispiel das Nomen "Pflegerin", wo es sich um die Pflegerin handelt. Wenn wir uns da nicht bemühen, könnten, befürchte ich, die Nomen aus deiner Rede schließlich ganz verschwinden, da du noch dazu so gut wie keine Person bei einem eindeutigen Namen nennst. Sagt sie, die mit dem bestimmten Nomen "Pflegerin" zu bezeichnen hiermit festgelegt war.

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