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Die große Lücke

An einem Freitag Ende Mai saß ich gerade im Zug auf dem Weg zum Metallica-Konzert in Hamburg, als mir ein Freund den Link zum Reddit-Thread über eine große deutsche Band schickte. Während des anschließenden Wochenende häuften sich in Netzportalen die Individualberichte, medial passierte noch nicht viel, dort interessierte man sich eher für einen von der Bühne gefallenen Sänger. Erst drei Tage später kamen langsam Artikel zum eigentlichen Thema. Zunächst zögerlich, als wollte man noch nicht so recht glauben, was sich da gerade verdichtete, dann mit immer mehr Nachdruck. Recherchen förderten teils mithilfe von Wortmeldungen weiterer Betroffener mehr und mehr Details zutage. Einige strafrechtlich entscheidende Punkte bleiben bis heute unklar, bei anderen – mindestens moralischer Natur – ergab sich bald ein ziemlich klares Bild. Umfangreiche "Castingsysteme" im Umfeld einiger der größten Publikumsevents Europas lassen sich eben nicht gänzlich verbergen.

Die enthüllten Geschichten erschütterten den Glauben an die Integrität der verantwortlichen Band unwiederbringlich. Gleichzeitig brachten sie unschöne Seiten der hiesigen Presse zum Vorschein. Mehrere renommierte Zeitungen und Musikmagazine ergriffen nahezu jede Gelegenheit, um noch das letzte bisschen Restgeld aus dem gerade kenternden Flaggschiff deutscher Populärmusik zu pressen. Anzeigen wurden geschaltet, um Clickbait-Artikel zu pushen, Boulevard-Niveau wurde salonfähig – und wenn man jemandem damit half, dann bestimmt nicht den mutmaßlichen Opfern, sondern höchstens dem Beschuldigten und jener blindtreuen Fanschar, die partout nicht glauben wollten, was ihr Idol da getan haben sollte und jeden Ansatzpunkt dankend annahm, die Gegenseite als unglaubwürdig und sensationsgeil darzustellen. Oft ging es nicht mehr darum, Aufmerksamkeit für Betroffene und das dahinterliegende systemische Problem zu schaffen, sondern darum, sich über den Skandal selbst zu profilieren.

Noch erschreckender aber war zu beobachten, wie vehement sich manche Anhänger:innen den fundierten Berichten verschlossen (und das teils noch immer tun), statt zuzuhören lieber die mutmaßlichen Opfer angriffen, in Konsequenz ihr angeknackstes Idol zum Teflon-beschichteten Heiligen und dessen Konzerte zu Pilgerstätten überhöhten. All das, während ebenjene fragliche Person samt zugehörigem Umfeld sich hinter höhnischen Metaphern und zweifelhaften Klagen – übrigens auch gegen dieses Medium – versteckt, statt sich dem von ihr heraufbeschworenen Sturm zu stellen.

Ihr wisst alle, worum es geht. Die Entwicklungen wurden zur Genüge diskutiert, wer konkreter nachlesen möchte, findet reichlich Material. Die Alben stehen stabil in den Charts, die kommenden Konzerte sind ausverkauft, jede:r kann für sich selbst entscheiden, ob man weiter hingeht und hört oder nicht.

Mehr gibt es dazu im Grunde aktuell nicht mehr zu sagen. Auch nicht die Namen der Verantwortlichen. Denn noch mehr Netz-Traffic und damit free Promotion brauchen sie bestimmt nicht.

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