Um den Aufschrei der Puristen vorweg zu nehmen: Ein Artikel über Hip Hop hat im Grunde nichts in einem Genre-Lexikon zu suchen, bezeichnet der Begriff doch viel mehr als einen Musik-Stil. Hip Hop, oft fälschlicherweise mit Rap-Musik gleichgesetzt, geht weit darüber hinaus.
Neben Rap (früher oft als MCing bezeichnet) und DJing zählen Graffiti (Writing) sowie Breakdance (auch B-Boying) zu den Säulen, auf denen die Hip Hop-Kultur beruht. Gerade den oft vergessenen B-Boys kann nicht genug Respekt gezollt werden: Es waren die Tänzer, deren Bedürfnisse die DJs der ersten Hip Hop-Tage leiteten und inspirierten, und die so die Grundlage für die immense Popularität des neuen Sounds legten. Mittlerweile umfasst Hip Hop weitere Disziplinen wie Beatboxing, Producing und Street Fashion und darf schon lange nicht mehr als "Jugendkultur" betrachtet werden: Nach über drei Jahrzehnten ist man den Kinderschuhen wahrhaftig entwachsen.
New York zu Beginn die Siebziger Jahre: Offensichtliche Rassenschranken sind abgebaut, die erste Generation Post-Soul-Kids vorwiegend afroamerikanischer oder puertoricanischer Abstammung genießt auf dem Papier die gleichen Rechte, wie sie der weißen Bevölkerung zuteil werden. Die Realität errichtet jedoch neue Barrieren. Armut, Drogenkonsum und Bandenkriminalität bereiten in den benachteiligtsten Vierteln New Yorks den Boden, in den Hip Hop seine Wurzeln gräbt.
In bester jamaikanischer Soundsystem-Tradition bedient Kool DJ Herc in der ersten Hälfte der 70er auf seinen Block Parties das tanzwütige Volk. Um die Menge in Bewegung zu halten, setzt er besonders auf die Breaks, verlängert die instrumentalen, oft percussion-lastigen Passagen seiner Platten, und kreiert so eine Technik, die später als Beatjuggling bezeichnet werden soll.
Grandmaster Flash, ein Bastler vor dem Herrn, setzt noch etliches an Methoden drauf: Auf ihn gehen Cutting und Phasing, heute allgegenwärtige DJ-Standards, zurück. Auch die ersten Backspins werden ihm zugeschrieben. Das Scratching hingegen soll eine Erfindung seines Schützlings Grandwizard Theodore gewesen sein. Weithin populär machte diese Art und Weise, Platten zu kratzen, jedoch erst Grandmixer D.ST gemeinsam mit Herbie Hancock in "Rockit" von 1983.
Fehlt, neben Herc und Flash, noch der dritte Gründervater der Hip Hop-Kultur: Afrika Bambaataa bringt mit der von ihm ins Leben gerufenen Zulu Nation afrozentrische Gedanken, seine "Peace, Love, Unity and Having-Fun"-Philosophie sowie immense musikalische Bandbreite ins Spiel. Neben Soul, Funk und Latin verwurstet Bambaataa, was immer ihm in die Hände fällt. Auch futuristische Elektronica eines obskuren deutschen Quartetts sind vor Bam keineswegs sicher, wie "Planet Rock", der erste auf Sampling basierende Hit seiner Soul Sonic Force, beweist.
Bambaataa, Herc und seine Herculoids, Flash und die Furious Five, Lovebug Starski und DJ Hollywood rocken die Szene bereits lange bevor die erste Hip Hop-Platte gepresst wird. Nicht einmal der Begriff "Hip Hop", der auf lautmalerische Gesänge zurück geht, deren Ursprung abwechselnd Starski oder dem Furious Five-MC Cowboy angedichtet wird, ist zu dieser Zeit in Gebrauch: Nö, einstweilen spricht man noch von "Disco Rap".
Hip Hop aus der Konserve hört man erstmals 1979 auf einem Tonträger der Fatback Band. Bei deren Label Spring Records unterschätzt man allerdings das wirtschaftliche Potential, das in Rap-Music schlummert, und versteckt die Nummer "King Tim III (Personality Jock)" mit King Tim auf der B-Seite von "You're My Candy Sweet". Ein besseres Händchen für Trends beweist man bei Sugar Hill: Noch im gleichen Jahr landet die Sugarhill Gang mit "Rapper's Delight" einen sensationellen Erfolg. Als erster Star der Szene freut sich Kurtis Blow über einen Major-Deal in seiner Tasche.
Neben den anfangs dominierenden Partythemen hält die Sozialkritik Einzug: Grandmaster Flash und die Furious Five schlagen mit Nummern wie "The Message" und "White Lines" ernstere Töne an. Mitte der 80er liegt Crossover voll im Trend: Run DMC oder die Beastie Boys rappen über harte Gitarrenriffs und sondieren so neues Terrain. "Yo! Bum Rush The Show" melden sich Public Enemy zu Wort und verstehen sich als politisches Sprachrohr ihrer Hörerschaft: Wenn man so will die Geburtswehen des Conscious-Rap. Eine neue Generation von MCs übernimmt das Mic. Die Rivalität der New School gegenüber der Old School manifestiert sich unter anderem in der immer wieder aufgekochten Fehde zwischen LL Cool J und Kool Moe Dee.
Drogen, Gewalt und das Ghetto sind stets Themen im Hip Hop. Schoolly D verleiht dieser Sparte eine neue Qualität: "Sein kühler, spöttischer Ton jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken", erinnert sich Musikjournalist Nelson George an seinen ersten Kontakt mit Gangsta-Rap. Mit N.W.A. "Straight Outta Compton" tritt die West Coast auf den Plan.
In New York, wo intellektuelle Strömungen (wie sie die Native Tongues Posse mit De La Soul, A Tribe Called Quest, Black Sheep oder den Jungle Brothers hervor bringen) und politische Statements (KRS-One, Public Enemy) den Ton angeben, bangt man um den Status als Nabel der Hip Hop-Welt.
Trotz aller in den Medien aufgebauschten Theatralik handelt es sich bei dem berüchtigten East Coast / West Coast-Konflikt weniger um eine territoriale Auseinandersetzung denn um Händel zwischen zwei rivalisierenden Labels, zwischen Bad Boy Entertainment auf der einen und Death Row Records auf der anderen Seite. Bevor der Streit beigelegt wird, fallen ihm zwei vielversprechende junge Künstler zum Opfer: Am 7. September 1996 wird Tupac Shakur in Los Angeles erschossen, ein halbes Jahr später ist auch sein Kontrahent Notorious B.I.G., der King of New York, tot. Beide Morde bleiben unaufgeklärt.
Nas, der Wu-Tang Clan und Mobb Deep prägen mit Meilensteinen wie "Illmatic" oder "Enter The 36 Chambers" den Eastcoast-Sound der 90er. Im allgemeinen Bewusstsein dominiert jedoch die funklastige, textlich kompromisslose Attitüde des Gangsta-Rap. Erst gegen Ende des Jahrzehnts flaut dieser Trend ein wenig ab. Einflüsse aus Reggae, Dancehall, Elektro-Funk sowie eine zunehmende Rückbesinnung auf R'n'B und Soul sorgen für Schnittflächen zum Mainstream-Geschmack.
Hip Hop breitet seine Tentakel aus. Schon lange beschränkt sich die Produktivität in den USA nicht mehr auf die Küsten. In Philadelphia und Detroit florieren die Szenen, der amerikanische Süden stellt mit Dirty South seine eigenen ästhetischen Regeln auf.
Längst hat man es mit einem globalen Phänomen zu tun: Frankreich entwickelt sich mit Acts wie NTM, I Am oder MC Solaar zum Dreh- und Angelpunkt der europäischen Hip Hop-Welt. Rap boomt auch in Skandinavien. In Großbritannien entwickeln sich eigene Strömungen wie Britcore, Jungle und Grime.
Wieder sind es die Tänzer, die dem Trend in Deutschland zum Durchbruch verhelfen. Das Hip Hop-Fieber erreicht die Bundesrepublik Hand in Hand mit der über den großen Teich schwappenden Breakdance-Welle, die von Kinoproduktionen wie "Flashdance", vor allem aber durch Hip Hop-Streifen wie "Wild Style" oder "Beat Street" geschürt wird. Mit Boogaloo, Locking und Popping fing es an, neue Tanzstile kommen und gehen. Sieben Jahre nach der Jahrtausendwende tourt Tommy The Clown durch die Lande und führt mit Krumping und Clowning vor, was Breakdance mittlerweile vermag.
In Deutschland breakt sich Niels Robitzki unter seinem Alias Storm von der Straße auf angesehene Bühnen hoch und dreht sich zwischendurch auch in Werbespots für Schmerztabletten auf dem Kopf. Die musizierenden Kollegen stehen dem in nichts nach: Mit "Ahmet Gündüz" feuern die Jungs von der Fresh Familee in Ratingen West den Startschuss für Rap Made in Germany ab. In Stuttgart, Hamburg und Heidelberg brechen sich die unterschiedlichsten Spielarten von Hip Hop Bahn - lange bevor sich Rap in Deutschland zum flächendeckenden Phänomen und Berlin auch im Hip Hop-Kontext zur (selbsternannten) Hauptstadt erhebt.
"Um Hip Hop völlig verstehen zu können, braucht man vermutlich einen Abschluss in Soziologie, mehrere Knastaufenthalte und ein Gefühl für afrikanische Rhythmen." Nelson George, vom "Rolling Stone"-Magazin zum "besten Hip Hop-Kritiker des Planeten" erkoren, begleitete das Phänomen Hip Hop bei seinem Aufstieg von den Anfängen in den späten Siebziger Jahren in der Bronx bis hin zum weltweit allgegenwärtigen Mainstream-Konsumartikel. Neben David Toops "Rap Attack" sei historisch interessierten Heads die Geschichte seiner Hassliebe, wie er sie in "XXX - Drei Jahrzehnte Hip Hop" dokumentiert, wärmstens ans Herz gelegt.
Im Gegensatz zu zahlreichen anderen musikalischen und künstlerischen Trends, die seit den 60ern aufstiegen, blühten und verglühten, scheint sich Hip Hop die Aufforderung Afrika Bambaataas aus "Planet Rock" zu eigen gemacht zu haben: "Everybody just rock it, don't stop it / Gotta rock it, don't stop. / Keep tickin' and tockin', work it all around the clock / Everybody just rock it, don't stop it / Gotta rock it, don't stop."