Poptimismus ist fertig, wir brauchen Hass: Unser Autor Yannik Gölz kümmert sich mal um die neue "Atemlos durch die Nacht"-Version von Helene Fischer mit Shirin David.

Berlin (ynk) - Es ist jetzt zehn Jahre her, dass Musikjournalismus einen wilden Schwenk aus der Pitchfork-Ära gemacht hat. Plötzlich war die Popmusik nicht mehr ein Dämon, gegen den es zu rebellieren galt, es gab nicht mehr diese sonderbare Binarität aus Autotune (schlecht) und depressivem Typ in Flanellhemd mit kanadischer Indieband (gut) - und irgendwann in diesem Prozess hat der öffentliche Diskurs den Wert von Artists wie Lady Gaga, Beyoncé oder Charli XCX verstanden.

Es ist ebenso zehn Jahre her, dass ich ein Jahr nach dem Abitur noch in meinem Heimatdorf verzweifelt nach einer Party für Silvester gesucht habe. Ich bin mit meinen zwei Kumpels am Ende in Griesingen abgestiegen (Shoutout nach Griesingen), wo in einem Bauwagen ein paar Dutzend alter Klassenkamerad*innen gefeiert haben. Das ist eigentlich kein schlimmes Loch, es gab auch gute und surreale Abende dort zwischen "Call of Duty" oder ESC-mit-20-Heteromännern-Schauen. Aber an diesem Abend, da war ein neuer Sheriff in der Stadt. Der hieß "Atemlos Durch Die Nacht" und war so sehr der neue heiße Scheiß unter den Musikverein-Youngins, dass er ab ein Uhr morgens einfach auf Dauerschleife lief. 2014 wurde von mir nicht mit Poptimismus eingeläutet. Ich hätte an diesem Abend alles für einen flanellhemdigen, depressiven Kanadier getan, der mich aus diesem siebten Kreis der Hölle gerettet hätte.

"Atemlos Durch Die Nacht" von Helene Fischer - das Original

Es hat sich viel getan seitdem. Schlager hat sich - schockierend parallel zur amerikanischen Country-Musik - erst schamlos an den Pop, dann ganz subtil an den Rock (Suffrock, nicht Indierock) und dann schamvoll, aber mit Schmackes an den Hip Hop geschmissen. Trotzdem sind beide Genres nicht Teil einer wirklichen poptimistischen Neu-Bewertung geworden. Genau wie Sam Hunt nicht auf Pitchfork gelobt würde, findet ihr auch bei uns keine Lobeshymnen auf Vanessa Mai. Dabei gäbe es durchaus Argumente für eine Helene Fischer, die russlanddeutsche Queen, eine der wenigen in Deutschland, die das Medium Pop wirklich mit Arbeit unterfüttern. Die Show und Choreo und Performance auf einem Level auf die Beine stellt, von der unsere Artists in Pop oder Hip Hop wohl nur träumen könnten.

Gut, dass ich absolut nicht dieses Plädoyer schreiben muss. Denn Helene scheint ihr eigener Nummer-eins-Hater zu sein, wenn man ihre Neu-Einkleidung ihres Megahits zum zehnten Geburtstag anschaut. Sie hat Shirin David für einen modernen Remix rekrutiert. Yeah, ein bisschen Hip Hop! Das kann ja nur übel werden. Wenn wir nämlich schon dabei sind, Nostalgie für 2013 zu tanken, dann nehmen wir auch eine Prise von diesem amtlichen Girlboss-Feminismus, der hier geboten wird. Das ist ein Aufmarsch von zwei kompetenten, skrupellosen Geschäftsfrauen. Helene und Shirin begegnen sich auf diesem Track wie die Führungsetagen von Amazon und Heckler & Koch, wenn Helene wieder "wir sind unzertrennlich, irgendwie unsterblich" anstimmt.

Helene Fischer und Shirin David - das Zusammentreffen

"Keiner darf mir sagen, was ich mache / Dresscode: Regenbogenflagge" und "Das ist kein Make-Up, sondern Kunst" versucht Shirin mit der Brechstange, den Song zum Pride-Anthem zu machen. Das ehrt sie, wirklich. Es ist schön, diese Plattform für ein sinnvolles Thema zu nutzen. Allerdings war "Atemlos" schon ein Pride-Anthem. Das weiß ich, denn ich habe es dieses Jahr beim Berliner CSD gehört. Vom CDU-Wagen. Im Loop. 2013-Flashbacks! Aber bitte, lasst euch nicht von einer positiven Message in die Irre darüber führen, was dieser Song ist: Es ist keine Zelebration, es ist ein Sample. Es ist einmal mehr der billigste Nostalgie-Zirkus, den wir dieser Tage schon mit Höllen-Hits wie Kontra Ks "Follow" oder Badmómzjays "Airplanes" bekommen haben. Gewissermaßen nutzt Shirin dieses Crossover für Marktforschung in einer Post-Genre-Welt.

Also, klappt es, das Crossover? Wer das Original mochte und nicht homophob ist, wird auch diese Version wahrscheinlich nicht per se hassen. Also so die Hälfte Schwund, vielleicht. Aber trotzdem klingt die Produktion hundert Mal voluminöser und gibt sich deutlich mehr Mühe, Glamour zu erwecken. Ich würde sagen, dass der Bounce der Synthesizer im Original einer der großen Faktoren dafür war, warum dieser Song so höllisch im Ohr blieb. Die aktuelle Version geht von Sekunde eins aufs Glitter-Vollgas und erstickt ein bisschen in ihrer eigenen Epik. Diese Chor-Samples, die direkt die ersten zwei Sekunden gespielt werden, klingen für mich, als hätte jemand einen LGBTQ-Kollegah-Beat imaginiert. Grindr wäre aber fairerweise wohl auch die einzige Plattform, die seinen Körperkult so richtig zelebrieren könnte. Danach gibt es Achterbahn und Bumsfallera, das mit einem 808-Bass vor Shirin ein bisschen signalisieren soll, dass da jetzt etwas Modernes kommt.

"Atemlos Durch Die Nacht" von Helene Fischer mit Shirin David (Audio)

Die Wahrheit ist, dass Shirin neben Helene überhaupt nicht auffällt. Beide sind in ihrer geschäftlichen Kompetenz komplett nahtlos nebeneinander. Und das ist irgendwie schräg, fast ein bisschen eklig, genau, wie das Geschleime, das die beiden im Pressetext aneinander richten. Das ist das Ding mit diesem Nostalgie-Hype: Wie viele dieser Songs hält auch dieser seine Hörer*innen wohl ein kleines bisschen für Vollidioten. Hier, wichtiges Statement, hier, Hit, kauft, kauft, kauft. Das ist gut, weil ihr das schon kennt. "Atemlos" kommt in einer Zeit, in der kein kreatives Eigentum unausgeschlachtet davonkommt. Allein in diesen Tagen haben wir neue Ableger von den Tributen von Panem, von Justin Timberlake, von Tintenherz und Eragon, jetzt gerade kaufen Labels alte Kataloge, weil alte Musik wertvoller als Neue ist. Aber Nostalgie ist eine blinde Droge. Wir müssen nicht alles gut finden, nur weil wir jung waren, als es rausgekommen ist. Nicht alles verdient eine neue Beobachtung, nur weil viele Leute es gut fanden. Es ist 2023 und wir brauchen keinen Poptimismus, wir brauchen Hate.

Wenn dieser neue Song jemandem gefällt oder etwas bedeutet: schön. Das soll das gar nicht in Abrede stellen. Aber Popmusik könnte so viel mehr sein als das ewige Recycling der Gassenhauer von gestern. Es sollte immerhin mehr sein, als die Gassenhauer von gestern in pappiger Produktion nahezu ungenießbar zu machen. Dieser Song ist Musikkonsum in seiner hirnlosesten Facette, das Wellenform gewordene Wissen der Majorlabels, dass die Bauern schon fressen werden, was sie kennen, für immer und ewig, amen. Wahrscheinlich wäre glaubhafter Poptimismus, genau das hier nicht zu verteidigen. Denn guter Pop ist so viel mehr, und Trash ist Trash, egal, was für eine progressive Plakette man dran heftet.

Fotos

Helene Fischer

Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Helene Fischer,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm)

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