laut.de-Kritik

Eine der führenden Postrock-Bands kommt aus China.

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Aus der Kategorie 'Dinge, die du so gar nicht auf dem Schirm hattest, aber deine musikalische Weltanschauung verändern': Wang Wen. Wäre vor einigen Wochen die pg.lost-Recherche nicht gewesen bzw. die so gefundene Split-Kollabo, würde sich das chinesische Postrock-Kollektiv wohl immer noch vor mir verstecken. Dabei existieren Wang Wen bereits seit 17 Jahren. "Sweet Home, Go!" stellt bereits das neunte Studioalbum dar – das dritte im internationalen Vertrieb. Und es ist außergewöhnlich.

Die Bezeichnung als "Rock" erfasst den Sound der Band dabei nicht mal annähernd. Ja, sie haben Gitarre, Bass und Schlagzeug – das war es dann so ziemlich. Und den erwartbaren Post-Horizont überschreiten Wang Wen auch noch. Allein "Red Wall And Black Wall" lässt sich vielleicht in diese Schublade quetschen. Es ist auch der einzige Track, der von Anfang an so etwas wie greifbare Struktur in Form eines Riffs bietet. Zwar offenbaren auch die anderen eine solche früher oder später, doch die wahre Kunst Wang Wens offenbart sich meist im Weg dorthin.

Eine Disziplin wie sie Wang Wen auf "Sweet Home, Go!" an den Tag legen, hört man selten. In den vollen 74 Minuten Lauflänge findet man keine Stelle, an der nicht das Gesamtkonstrukt eines Songs im Vordergrund steht – oft schweigen die Beteiligten minutenlang, um dann im richtigen Moment zum bedachtsam aufgebauten Notennetz beizutragen. Dabei hat man nie das Gefühl, dass die eine Wiederholung zu viel war oder man sie umgekehrt ruhig noch ein bisschen hätte laufen lassen können. Das Timing dieser Gruppe ist schlichtweg phänomenal.

Hauptsächlich diesem Timing ist es geschuldet, dass an sich immer noch ruhige Streicherpassagen wie im Zentrum des Openers "Netherworld Water" einschlagen, als hätten sie nicht nur gerade das Feuer entdeckt, sondern zeitgleich noch, wie man damit ein Feuerwerk zündet. Mit dem Harmoniegespür eines Sakamoto und in etwa derselben cineastischen Anmut ziehen Wang Wen in ihren Bann. Lasst die Jungs einen Hollywood-Streifen vertonen und sie steigen ins Oscar-Rennen ein. Fun Fact: Sie schrieben gerade den Soundtrack zu einer neunstündigen chinesischen Produktion.

Zum Filmkosmos passt auch die Instrumentierung: Streicher und Trompete nehmen zentrale Rollen in der Melodienbildung ein. Bei Letzterer sei besonders "Heart Of The Ocean" empfohlen, dem erst Gebläse mit angedeutetem Solo, dann auch die Gitarre eine leicht jazzige Atmosphäre verleihen. Den Beginn des Stücks gestaltet eine Klangschale (oder Gong), Reverse-Gitarren und zittrige Bogenstriche (wohl teils ebenfalls auf der Gitarre), bevor pointiert Klavier und Schlagwerk hinzukommt. Das Faszinierende: Bis dieses Atmo-Intro sich so etwas wie einem Takt öffnet, vergehen fast vier Minuten – doch nie herrscht Stillstand, stets vermittelt die Band, dass sie auf etwas hinarbeitet.

So enstehen die folgenden melancholischen Lehrstunden in Sachen musikalischer Schönheit ganz natürlich aus dem fein gewebten, sorgfältig ausgelegten Klangteppich. Bis am Ende inmitten eines Rausch- und Beckensturms die Trompete zum epischen Finale ansetzt – ohne dabei wirklich episch zu wirken, sondern eher zerbrechlich.

Die asiatische Herkunft hört man der Truppe ebenfalls an – allerdings nicht so deutlich wie man vielleicht vermuten würde. Entsprechende Harmonien flicht sie subtil in die Kompositionen ein, sie sind durchaus vorhanden, gehen aber homogen im Resultat auf und fallen dadurch im Gesamteindruck nicht allzu sehr ins Gewicht. Exotenbonus ist damit fast nur auf dem Papier vorhanden – den haben Wang Wen allerdings auch ganz bestimmt nicht nötig. Glockenspiel in "Sweet Home" plus Himalaya-Flöte oder das zweiminütige A-Capella-Stück "Reset" haben natürlich zweifellos ihren Reiz.

Dies alles zusammengenommen ermöglicht Wang Wen, dem perfekten Album erstaunlich nah zu kommen. Dabei verkauft sich "Sweet Home, Go!" in vielen Momenten geradezu demütig. Die dynamische Dramaturgie, die hier zelebriert wird, lebt – wie oben angedeutet – in erster Linie davon, dass die Musiker über weite Strecken extrem zurückgenommen und sehr geduldig agieren. Der Großteil des Albums spielt sich in leisen, sanften Passagen ab, was die lauten Stellen umso eindringlicher macht. Ausnahmen hiervon stellen "Red Wall And Black Wall" sowie "Lost In The 21st Century" dar. Letzteres legt seinen friedvollen Mantel jedoch erst in der zweiten Hälfte ab.

Atmosphärisch ein Meisterwerk, harmonisch outstanding, rhythmisch mit einigen echten Highlights ("Children's Palace") – mir fällt tatsächlich nichts ein, um Wang Wen das große "aber ..." vorzuhalten. Es sei denn natürlich, man hasst es, Songs Raum und Zeit zum Aufbau zu geben und hat lieber seine griffige Hook, catchy Vocallines (nope, menschliche Stimmen kommen einzig im experimentellen "Reset" zum Einsatz – ohne Text) und hin und wieder flottes Up-Tempo. Damit dienen die Chinesen nicht. Doch hört man "Sweet Home, Go!" wirklich zu, gibt es keinen Anlass, dies alles zu vermissen.

Jetzt wäre nur noch die Frage zu klären, warum iTunes mir immer wieder ohne zu fragen Will Smiths "Gettin' Jiggy With It" reindrückt, sobald die letzten Töne von "Reset" verklungen sind. Alphabet, go home.

Trackliste

  1. 1. Netherworld Water
  2. 2. Red Wall And Black Wall
  3. 3. Heart Of Ocean
  4. 4. Children's Palace
  5. 5. Lost In The 21st Century
  6. 6. Sweet Home, Go
  7. 7. Reset

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