laut.de-Kritik
Kein Widerspruch in sich.
Review von Julius StabenowMit viel Vorschusslorbeeren ins Game gestartet, haftete 070 Shake immer ein wenig das Image des Kritikerlieblings an, der zwar erfolgreich ist, aber trotz des gewaltigen Talents und der richtigen Kontakte kommerziell nicht komplett durchbricht. Das änderte sich im letzten Jahr, als die Künstlerin aus New Jersey ihren Megahit "Escapism" mit Raye landete. Nach diesem Meilenstein im persönlichen Musikerinnen-Bingo konnte sie sich wieder voll auf ihren eingängig-experimentellen Sound konzentrieren, der ihr nicht nur ein Signing bei G.O.O.D. Music einbrachte, sondern Labelchef Kanye West maßgeblich auf seinen letzten Alben beeinflusste.
Völlig unbeeindruckt von der riesigen Aufmerksamkeit scheint die Sängerin ihren speziellen Ansatz auf ihrem neuen Album "Petrichor" weiterzuentwickeln. Sie entfernt sich immer weiter von ihren Wurzeln als Rapperin und erschafft einen Genre-Hybrid, der sich nur schwer einordnen lässt.
Ein gutes Beispiel dafür ist "Pieces Of You", auf dem eingängiger Gesang und schöne Streichermelodien auf übersteuert scheppernde Drums und apokalyptische Synthies treffen. Diese scheinbaren Gegensätze bilden eine überraschend harmonische Einheit und machen den Track zu einem Highlight der Platte. Selbst vor Weihnachtsliedern macht die Kreativität von 070 Shake nicht halt: "Winter Baby / New Jersey Blues" beginnt mit einem festlichen Glockenspiel, nur um zum Ende einmal mehr die dunkle Schattenseite der aufgesetzten Weihnachtsfreude zu zementieren.
Generell probiert sich 070 Shake in allen möglichen Stilen aus und klingt trotzdem nie beliebig, sondern drückt jedem Experiment ihren eigenen Stempel auf. Das beginnt mit der Videosingle "Elephant", die von Depeche Mode inspiriert scheint, und endet im gitarrenlastig verzerrten "Love". Als roter Faden ziehen sich vor allem zwei Elemente durch die Tracklist: Düstere Melancholie und eine dauerhafte Überforderung der Hörenden. Ständig ergeben sich neue Ideen in Songs, in denen eigentlich schon mehr als genug Ideen verarbeitet wurden.
"Never Let Us Fade" beginnt eigentlich sehr minimalistisch und sanft, doch schon wenn der Gesang einsetzt, fügen sich verrauscht-verzerrte Sounds ein und lassen ein unheilvolles Gewitter erahnen. Gegen Mitte bricht die Musik dann komplett auf, die völlig überladene Bassline gibt alles und es wird monumental, nur um zum Ende wieder verspielt und unangenehm positiv zu klingen. Das bunte Potpourri der Überraschungen komplettiert das Feature von Cam, einer Country-Sängerin, die hier in völlig fremden Gefilden fischt, den Song aber perfekt ergänzt.
Trotz Gastbeiträgen auf den Releases von Swedish House Mafia bis DJ Khaled hält 070 Shake sich auf ihren eigenen Veröffentlichungen mit Features zurück. Die drei auf "Petrichor" sind zudem alles andere als erwartbar und könnten unterschiedlicher nicht sein. Neben der erwähnten Country-Sängerin findet sich JT auf dem Album. Die ehemalige City-Girls-Rapperin startet gerade als Solokünstlerin durch und macht sich mit stabilem Trap in der Tradition von Cardi B oder Megan Thee Stallion einen Namen. Davon hören wir auf "Into Your Garden" recht wenig. Die Kollabo beginnt mit einem virtuosen Klaviersolo, das nach über einer Minute in den mitreißenden Track übergeht. Erst am Höhepunkt beginnt der Part der Feature-Partnerin und fügt sich erstaunlich gut in den Song ein. 070 Shake zieht auch Künstlerinnen, die auf den ersten Blick nicht zu ihr passen, in ihre ganz eigene Welt, ohne dass es künstlich wirkt. Das gilt auch für die legendäre Courtney Love, die einen ihrer ganz wenigen aktuellen musikalischen Auftritte auf "Song To The Siren" absolviert.
Trotz ihres riesigen Hits geht 070 Shake auch auf ihrer neuen Platte absolut keine Kompromisse ein. Niemand bringt scheinbare Widersprüche so problemlos in Einklang und klingt dabei so einzigartig wie diese Ausnahmekünstlerin. Mit "Petrichor" beweist sie einmal mehr, dass sie aus dem Label Emo Rap in der Tradition von Lil Peep und Xxxtentacion lange rausgewachsen ist. Stattdessen hat sie ein eigenes emotionales Universum erschaffen, in dem sie ihre endlosen musikalischen Ideen und ihre inhaltliche Melancholie voll ausleben kann.
2 Kommentare mit einer Antwort
Als Petrichor wird der Geruch von Regen auf trockener Erde bezeichnet. Das Wissen brachte mich dazu hier einmal reinzuhören. Nichts was ich mir kaufen müsste, aber schon ok.
Das Album ist mir eine Nummer zu experimentell von ihr. Ich feiere Hits wie Black Dress oder Morrow und hätte mir den Sound auf dem Album mehr gewünscht. Nichts desto trotz ist 070 Shake eine talentierte Künstlerin, die man nicht auf Anhieb auf den Zettel hat. Ihr Debütalbum Album Modus Vivendi finde ich am besten.
Das Debutalbum, die Glitter EP und Singles davor nicht zu vergessen. Ich find sie auch stark, finde aber die Alben lassen nach.