laut.de-Kritik

Auch ohne zweites "Hello" ein meisterliches Comeback.

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Wenn Adele singt, hört die Welt zu. Das war schon immer so und das wird auch so bleiben. Obwohl unser Planet seit "25" (2015) gefühlt ein anderer ist und gerade in den letzten knapp zwei Jahren alles drunter und drüber geht, ist auf Adele und ihre Balladen Verlass. Und darauf, dass niemand um sie herumkommt, egal wie sehr man sich auch anstrengt.

Ihre Abstinenz hat dem Hype um das vierte Studioalbum der sogenannten Queen of Hearts sicherlich nicht geschadet. Im Gegenteil: Wer so lange kein Lebenszeichen von sich gibt - weder Singles noch Features noch sonstige musikalische Ausrufezeichen - dem wird beim Comeback besonders viel Aufmerksamkeit zuteil. Zumindest wenn man Adele Adkins heißt.

Von alleine vermarktet und verkauft sich ein neues Adele-Album allerdings auch nicht, daher seien an dieser Stelle kurz ein paar der wichtigsten Promo-Maßnahmen genannt: Interview mit Oprah Winfrey, großes Fernsehspecial inklusive Konzert für den amerikanischen Markt, "73 Questions" für die Vogue, auf der ganzen Welt verteilte Poster und Projektionen zur Vorbereitung auf die Leadsingle. Ein neues Adele-Album ist ein Event, dafür sorgt schon alleine die Marketing-Maschinerie.

Die Musik hingegen rückt dabei schon fast in den Hintergrund. "Easy On Me", der einzige Vorbote des neuen Albums, ist definitiv kein "Hello", deas seinerzeit der einzige Vorbote auf "25" war. Wer die letzten sechs Jahre nicht hinterm Mond gelebt hat, wird schon beim Lesen des Titels "Hello" den Anfang oder den Refrain des Liedes im Kopf haben.

Es erscheint zwar ein wenig unfair, "Easy On Me" in den direkten Vergleich mit diesem alle Rekorde brechenden ultimativen Super-Mega-Über-Hit zu schicken, aber irgendwie führt doch kein Weg daran vorbei. Es handelt sich zwar bei beiden Singles um Klavierballaden, aber "Easy On Me" hat nicht die Eingängigkeit, nicht die Durchschlagskraft und nicht die Omnipräsenz eines "Hello" - unabhängig davon, ob man diesen Song nun liebt oder hasst.

Traut man den Worten der Sängerin und ihrer eigenen Einschätzung zu "30", dann war ein zweites "Hello" ohnehin nie Teil des Plans: "So etwas wollte ich nicht noch mal. Dieses Lied hat mich in Sphären der Berühmtheit katapultiert, in die ich nicht wollte. Ich sage nicht, dass ich Songs wie "Hello" in meiner Westentasche habe. Ich war mir nur bewusst, dass ich nicht wollte, dass meine Geschichte auf diesem Album so klingt", verriet sie der Vogue.

Na gut, dann kein zweites "Hello". Hat ja auch niemand verlangt, ist vermutlich besser so und nötig hat sie es auch nicht. Wie sagte es der Rapper Drake so treffend: "I wasn't made for no casket or no prison cell / Every title doin' numbers like I'm Miss Adele". Nach "19", "21" und "25" nun also "30", das Alter, in dem sie mit der Arbeit am Album angefangen hat.

Nicht nur die Welt ist eine andere, auch in Adeles Privatleben gab es seit "25" eine Menge Veränderungen: allen voran die Hochzeit mit und die Scheidung von Simon Konecki, dem Vater ihres neun Jahre alten Sohnes. Für die Klatschpresse mindestens genauso interessant: ihr deutlich sichtbarer Gewichtsverlust, ihr Liebesleben nach der Scheidung und die Gerüchte um ihre Beziehungen. Letztere lässt sie natürlich kalt. Im Mittelpunkt ihres Lebens, und damit auch im Mittelpunkt des Albums, steht ihr Sohn, dessen Stimme sogar auf dem dritten Stück des Albums zu hören ist.

"My Little Love", wie ein Großteil des Albums von Soul-Legende Marvin Gaye inspiriert, klingt schwermütig, aber gleichzeitig sinnlich, zurückgelehnt, aber gleichzeitig orchestral. Die Aufzeichnung eines Gesprächs mit ihrem Song Angelo unterbricht die Verse: "I feel like you don't love me. Do you like me?", fragt er seine Mutter. "You know mummy doesn't like anyone else like I like you, right?", versichert sie ihm und schließt dessen Vater gleich mit ein: "I love your dad 'cause he gave you to me. You're half me and you're half daddy". Während einer Scheidung mit denen eigenen aufgewühlten Gefühlen klar zu kommen, muss schon schwer genug sein. Möglichst wenig von den Problemen auf die Kinder abzuwälzen, ist wohl die noch größere Herausforderung. Erst recht, wenn man wie in Adeles Fall selbst als Kind die Scheidung der Eltern mitmachen musste.

Was hilft? Alles rauslassen: "Cry Your Heart Out". "When you're in doubt, go at your own pace / Cry your heart out, it'll clean your face", singt sie und der Reggae, Soul und Motown fusionierende Sound könnte nicht besser dazu passen. Nach den ersten drei eher langsamen und schweren Tracks sorgt "Cry Your Heart Out" trotz teilweiser düsterer Lyrics ("When will I begin to feel like me again? / I'm hanging by a thread / My skin's paper-thin, I can't stop wavering / I've never been more scared") atmosphärisch für eine willkommene Abwechslung.

Musikalisch am interessantesten geht es zur Halbzeit des Albums zu. "Can I Get It", eine Produktion der schwedischen Pop-Allzweckwaffe Max Martin, beweist, dass Adeles Stimme über akustischer Gitarrenbegleitung einfach funktioniert (wenn "Send My Love" vom letzten Album dies nicht längst gezeigt hätte). Hoch die Tassen, jetzt geht's in den Pub. Obwohl Adele schon seit Jahren in Los Angeles wohnt, hat die Tottenham Hotspur-Anhängerin ihre britischen Wurzeln nicht vergessen.

Mit "I Drink Wine" folgt eines der großen Highlights des Albums: Songwriting, Instrumentalisierung, Gesang ... hier stimmt alles. Wer möchte, kann der Sängerin und ihrem Produzenten Greg Kurstin vorwerfen, hier ein Stück erzeugt zu haben, das auch vom Elton John der 70er Jahre stammen könnte, aber was ist daran schlimm? Zum Schluss des Liedes kommt noch einmal die Hammond-Orgel zur Geltung, die schon vorher im Hintergrund zu hören war und ich weiß nicht, wie es euch geht, liebe Leser, aber habt ihr schon mal einen schlechten Song gehört, in dem dieses Instrument vorkommt? Ich auch nicht.

Auf "All Night Parking (with Erroll Garner) Interlude" überrascht die britische Ausnahmekünstlerin plötzlich mit Hip Hop-Drums und einem Beatdrop, nach dem sich so mancher Rapper die Finger lecken würde. Das jazzige Erroll Garner-Sample harmoniert wunderbar mit Adeles sinnlicher Stimme und legt für knapp drei Minuten einen Vintage-Schwarzweißfilter über die Welt.

Bitterkeit ist mit Sicherheit eine Emotion, die nach einer Scheidung nicht nur die gesamte Beziehung, sondern auch das eigene Bewusstsein vergiften kann. Auf "30" kommt sie nur in einem Song durch, nämlich "Woman Like Me". Ihrem Ex, aber womöglich auch sich selbst, wirft sie hier Trägheit, Selbstgefälligkeit und die mangelnde Bereitschaft, gemeinsam zu wachsen vor. Zum Glück sind Bitterkeit und Wut in vielen Fällen nur vorübergehende Emotionen. Im realen Leben teilen sich Adele und ihr Ex-Mann das Sorgerecht. Die Trennung verlief wohl insgesamt freundschaftlich, und Konecki wohnt in einem von Adele bezahlten Haus auf der anderen Straßenseite.

Mit drei Balladen beendet Adele das Kapitel "30". "Hold On" startet ganz klassisch nur mit Adeles Stimme und dem Klavier. Ungefähr zur Hälfte steigt dann die wieder die Hammond-Orgel ein und unterstützt die oben aufgestellte These zu diesem Instrument. Dann ist das Schlagzeug zu hören, schließlich ein dezent gespielter Bass im Hintergrund. Dann Streicher und am Ende der Chor. Alles gewöhnliche Teile nicht nur in Adeles Baukasten, sondern auch dem der meisten Popdiven, aber das stilvolle Songwriting und Adeles gesangliche Leistung sind es, die diese lebensbejahende und kraftvolle Ballade zu einem weiteren Highlight machen.

Über den vorletzten Song "To Be Loved", eine den Fokus voll und ganz auf die Vocals richtende Klavierballade, sagte Adele, sie werde ihn nicht mehr live performen, da er ihr emotional zu nahe gehe. Ein anderer Grund könnte allerdings auch sein, dass er verdammt schwer zu singen ist und einem alles abverlangt. So hört er sich zumindest an. "Love Is A Game" bringt nochmal die ganze Band, das ganze Orchester und den ganzen Chor zusammen: "I can love, I can love again / I love me now, like I loved him", ruft sie hinaus in den Äther und das ist vielleicht keine besonders tiefsinniger oder überraschender Schlussstrich, aber eine nachvollziehbarer und ein würdiger Abschluss.

"30" ist kein Greatest Hits-Album wie "25" oder auch "21" mit zahlreichen radiotauglichen Kassenschlägern, die schon beim ersten Hören zünden und schließlich zu Dauerbrennern werden. Auch wenn es sich ein wenig nach einem Marketing-Narrativ anhört, ist "30" tatsächlich ein extrem persönliches, vermutlich sogar ihr bis dato persönlichstes Album. Die Mischung aus Balladen und Uptempo-Nummern ist ein altbewährtes Rezept, das sie diesmal mit stilvoll ausgeführten Genre-Experimenten verfeinert hat. Mit Greg Kurstin, Inflo (Produzent des britischen Neo Soul-, RnB-, Funk- und Hip Hop-Kollektivs Sault), Max Martin und dem Komponisten Ludwig Göransson (u.a. "Tenet", "Black Panther", "The Mandalorian") hat sie außerdem spannende Kollaborateure für das Projekt gewonnen, die maßgeblich für den inspiriert klingenden Sound mitverantwortlich sind. Auch ohne zweites "Hello" gelingt Adele mit "30" ein meisterliches Comeback.

Trackliste

  1. 1. Strangers By Nature
  2. 2. Easy On Me
  3. 3. My Little Love
  4. 4. Cry Your Heart Out
  5. 5. Oh My God
  6. 6. Can I Get It
  7. 7. I Drink Wine
  8. 8. All Night Parking (with Erroll Garner) Interlude
  9. 9. Woman Like Me
  10. 10. Hold On
  11. 11. To Be Loved
  12. 12. Love Is A Game

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