laut.de-Kritik

Unschlagbar: Monumentalität durch Brachialität.

Review von

Kinematografischer Post-Rock, prätentiös jammerndes Songwritertum oder misanthropischer Post-Black Metal – alles schön und gut. Doch wahren Schmerz muss der Musiker manchmal einfach extrovertiert vermitteln. Für die Schwermutsikonen Amenra ein leichte Übung. Mit ihrer ungesund labilen Mischung aus monoton-eingängigen Sludge-Riffs und depressiven Grabesschreien sind die Belgier seit Jahren ein Garant für gewaltige Liveshows. Sobald das Quintett die Bühne betritt, ist es die negative Stimmung, die positiv überrascht.

Fünf Jahre sind vergangen, seitdem Amenra ihre fünfte Studiomesse zelebrieren, fünf Jahre, in die unter anderem Live-Releases, Split-EPs und ein Akustikalbum fielen. Der Benefits des letzteren bedient sich auf "Mass VI" nun insbesondere Sänger und Symbolfigur Colin H. Van Eeckhout, der sich dem Klargesang in der Vergangenheit eher zaghaft angenähert hat. So füllen Amenra den Opener "Children Of The Eye" zwar noch mit dem gewohnten Wechselspiel aus simplem Downtune-Riffing mit markerschütternden Schreien und fragilen, jazzig-minimalistischen Verschnaufpausen, lassen im weiteren Verlauf dann aber auch die bitter nötige Portion Weiterentwicklung durchblicken.

Dabei gelingt es den fünf Musikern bei aller Grazilität, gerade genug Kurskorrekturen vorzunehmen, um den Bogen zwischen Stillstand und Selbsthinterfragung nicht zu überspannen. Der seit "Mass III" endgültig gefestigte Stilmix wird immer häufiger durch zarte Leads aufgebrochen, seien sie gesanglicher oder instrumentaler Natur. So singt Eeckhout insbesondere in der zweiten Albumhälfte seine eindringlichen Klagemelodien erstmals direkt über die schleppenden Sludge-Parts ("Plus Près De Toi", "Diaken"). Deutlich erkennbar: Sein behutsamer Klargesang hat im Zuge der "Afterlive"-Akustikkonzerte einiges an Präzision hinzugewonnen.

Endgültig gefestigt wird der aufgelockerte Stil dann aber im überragenden "A Solitary Reign", dessen eingängiges, simpel getapptes Gitarrenmotiv sich durch die gesamte Komposition zieht. Akzentuierte Gitarrensplits und die Überlagerung der stimmlichen Schizophrenie des Fronters treiben den Song deutlich in monotonere Post-Metal-Gefilde. Der Einfluss Cult Of Lunas, mit denen Amenra in den vergangenen Jahren mehr als einmal die Bühne teilten, tritt hier deutlich zu tage.

Sleep- und Neurosis-Produzent Billy Anderson verschafft der europäischen Version von "Mass VI" (wie auch schon dessen Vorgänger) ebenjene nötige, dynamische Tiefe, die insbesondere "Mass III"-Hits wie "Am Kreuz" meist nur auf der Bühne entfalten können. Näher dran an der unerreichbaren Live-Erfahrung mögen Amenra auf Platte nie gewesen sein – die unfassbare Durchschlagskraft der Dauerbrenner "Razoreater" und "Aorte" erreichen die Riffs auf "Mass VI" dabei aber trotzdem nicht immer. Und dann bleibt da eben noch die Frage, wie der infernalische Clean-Scream-Kanon denn eigentlich live umgesetzt werden soll.

Aber all das interessiert für den Moment nicht. Denn auf "Mass VI" bleibt das Phänomen Amenra auch weiterhin undurchleuchtet. Zu faszinierend ist es, wie die fünf Bandmitglieder angesichts ihrer zahlreichen Hardcore-, Drone- und Black Metal-Nebenprojekte eine musikalische Mitte finden, die bis heute einem unschlagbaren Credo folgt: Monumentalität durch Brachialität.

Trackliste

  1. 1. Children Of The Eye
  2. 2. Edelkroone
  3. 3. Plus Près De Toi
  4. 4. Spijt
  5. 5. A Solitary Reign
  6. 6. Diaken

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Amenra

Mystische Aura, interreligiöse Symbolik, verschwiegenes Auftreten – seit jeher bringen die extremen Metal-Spielarten Bands mit durch und durch okkultem …

4 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 7 Jahren

    nice, da hat jemand die band anscheinend schon etwas länger gehört, auch wenn erst jetzt die erste review erscheint. gebe zu, kenne von amenra so richtig nur "mass IIII" mit dem angesprochenen song "razoreater". zäh und unaufhaltsam fließt die lavamasse in deine richtung und nimmt dir unverhofft vorweg, was du mit dem rasiermesser vorhattest..
    hab amenra daher eher in erinnerung als band, die atmosphärischen post-metal spielt ohne doppelten boden, der direkt zur sache kommt mit seinem nihilistischen grundton, während der post-metal von bands wie den genannten cult of luna weit vielschichtiger ist..
    was ich aber bisher so von "mass VI" gesehen und gehört habe, wertet die band massiv auf und zeigt auf, dass da weit mehr ist, als ich bisher mit der band assoziiert habe.. bin daher echt gespannt auf "mass VI".
    btw., da in der review von nebenprojekten der band die rede ist: checkt mal wiegedood aus, zumal hier gerade die neue von wolves in the throne room bewertet wurde..

  • Vor 7 Jahren

    Ich hoere lieber wieder die ersten drei Khanate-Alben. Das ist zu viel fuer euch.

    Damit auch wieder weg, keine Lust mehr auf den Laden hier.

  • Vor 6 Jahren

    verdammt, verliere mich immer häufiger in dieser musik, aus der man keinen ausweg finden möchte. aber ihre als solche empfundene vertonung meiner negativen gefühle (denn ich weiß, ich unterstelle der musik, dass ihr meine gefühle und meine erfahrungswelt zugrunde liegen) und die musikalische überhöhung "meiner" gefühle machen meinen individuellen schmerz zum weltschmerz und ich fühle mich besser, weil dieser schmerz ja "normal" zu sein scheint und er ja anscheinend auch künstlerischen wert zu haben scheint. ich weiß, dass ich mich mit all dem selbst verarsche und mein tatsächliches steinbett zu einem (gefühlten) bett aus samt mache. wenn ich mich in "mass VI" verliere, wird mein schmerz allgemein, bedeutsam und erträglich. und nach dem konsum fühle ich mich nicht etwa ausgesaugt, sondern die autosuggestion wirkt nach und machts mir in der bewussten welt einfacher.
    "mass VI" zählt definitiv zu meinen lieblingsalben des jahres.

  • Vor 6 Jahren

    nesseria schlagen bei mir emotional in eine ähnliche kerbe wie amenra, wählen musikalisch aber nicht den fatalistischen weg, sondern eher den weg der wut aus verzweiflung:
    https://www.youtube.com/watch?v=L39fnPmSbEY
    natürlich kommen nesseria künstlerisch nicht an amenra heran, aber die musikalische verwandtschaft ist nicht zu weit hergeholt.
    "cette érosion de nous​-​mêmes" zählt ebenfalls zu meinen lieblingsalben des jahres.