laut.de-Kritik
Pure Schönheit aus dem Vakuum zwischen Pillenrave und Heimbastelei.
Review von Theresa LockerIch gebe es zu: Ohne Aphex Twin wäre Ambient nach Brian Eno für mich bis heute ein Schimpfwort geblieben, ein milder Euphemismus für moderne Fahrstuhlmusik und dröges Geplätscher auf Afterhours, das das MDMA-strapazierte Hirn beim Runterkommen möglichst wenig reizen soll.
Entsprechend wenig reizend ist auch das Gros der kommerziellen Ambient-Platten. Meist sind es nicht mehr als ein paar belanglose Synthies, die sich in gähnender Bass- und Beat-Leere herumfläzen und ihre Berechtigung höchstens noch in der Beschallung von esoterisch angehauchten Teeläden finden. Entstanden im Vakuum zwischen britischem Pillenrave und autistischer Heimcomputerbastelei, war das elegante Aphex Twin-Debütalbum "Selected Ambient Works 85-92" seiner Zeit weit voraus.
Wo nur anfangen, will man die Einfluss-Wellen zählen und benennen, die dieses Album geschlagen hat? Bei UNKLE, Wagon Christ, DJ Spooky und Boards of Canada? Oder bei Richie Hawtin aka Plastikman über Burial hin zu Cristian Vogel und seinem gemeinsamen Super Collider-Projekt mit Jamie Lidell? Im Zweifelsfall sei ein gewisser Thom Yorke erwähnt, der in Aphex Twins Veröffentlichungen einen Hauptauslöser für den massiven musikalischen Richtungswechsel seiner kleinen Kapelle Radiohead hin zu "Amnesiac" und "Kid A" sieht.
Ob Can, Stockhausen oder Tangerine Dream: Die Avantgarde-Einflüsse, die Richard D. James in Interviews nennt, lassen sich auch mit viel Phantasie kaum heraushören. Das hier ist etwas komplett Neues, angeblich inspiriert von luziden Träumen. Das Londoner Label Warp erfand später sogar eine eigene Nische, dämlich "Artificial Intelligence" betitelt, um die nur bedingt im Club einsetzbare Musik von Aphex Twin oder Autechre irgendwie im eigenen Katalog unterzukriegen.
Vom freundlich entrückten "Xtal" bis zum komplex verschrobenen "Green Calx", dessen Sound an vorbeirauschende Züge erinnert, ist das erste Album Aphex Twins durchsetzt von luftigen Texturen und intuitiv schönen Verläufen wie beim erhabenen "Heliosphan". Flüssige, elegante Melodien, die sich an gedämpfte Bassläufe schmiegen – diese Platte überholte das verkopfte Eno-Werk "Music For Airports" lässig und macht trotzdem genau das, was Ambient leisten sollte: Einen Raum zum Denken schaffen, statt den Hörer mit Reizen zuzuballern.
"Hedphelym" führt subtil einen klassischen Vierviertelrhythmus im Hintergrund, aber es sind die versunkenen, immer mehr ins Unbehagliche kippenden Synthies und Effekte, die die Hauptrolle spielen. Dieser Track sowie das düstere "Schottkey 7th Path" stören die ätherisch schwebende Stimmung und liefern einen Vorgeschmack auf die Alpträume, die Richard später mit seiner krank grinsenden, auf Bikini- und Schulmädchenkörper montierten Grimasse auslösen wird.
"S.A.W. 85-92" bereitet somit sanft auf das ganze Spektrum des Künstlers vor: Aphex Twin kann schleifend, ätzend sein, aber eben auch leichtfüßig, voller Grazie und zugleich unprätentiös. Zwar stammen die zischelnden Hi-Hats hier noch aus Roland-Drumcomputern und drücken der Platte ihren untrüglichen Zeitstempel auf - aber man sollte sich in Erinnerung rufen, dass all das zu einer Zeit entstanden ist, in der man noch keinen Sound am PC bearbeiten oder schneiden konnte. Richard D. James hat sich hierfür seine eigenen Synthies und Sounds gebastelt; sein Elektrotechnikstudium wird ihm in dieser Hinsicht nicht geschadet haben.
Der überbordende Applaus und der zu Recht zugeschriebene Klassikerstatus des Albums als "Kind Of Blue" der Electronica manifestierte sich umgehend in blühender Legendenbildung rund um den Menschen hinter der Musik, der Gigs angeblich auch mit ein paar Bögen Sandpapier auf den Decks bestreiten könne und ansonsten seinen Panzer in Cornwall spazieren fahre.
Ob diese Heldengeschichten nun absichtlich gestreut wurden oder nicht: Tatsächlich finden sich auf dem Album viele Titel aus einer Zeit, da Richard noch picklig vorm Kassettendeck gesessen haben muss, nämlich mit ungefähr 14 (!) Jahren.
Umso erstaunlicher sind die erwachsenen Melodien und originären Ansätze zu bewerten - es scheint fast, als habe Richard D. James seine Pubertät erst später mit In-your-face-EPs voller hochgepeitschter, komplexer Breakbeats und irritierender Alptraumästhetik nachgeholt. Sein eigenwillig verstörender Elektro und die blaustichige Horrorwelt des Videoclipregisseurs Chris Cunningham entpuppen sich ein paar Jahre nach dem Debüt als audiovisuelles Traumpaar.
Während einige Hörer von James' jüngeren Piano-Improvisationen oder aggressiven Drill'n'Bass-Experimenten Hirnknoten bekamen, ist die Stimmung auf "Selected Ambient Works 85-92" durchgängig dezent, fast schon vornehm. Mit seiner subtilen Entfaltung und der harmonisch stimmigen Klangfarbe ist "SAW" daher fast schon sowas wie die Gegenthese des irren, kiefermahlenden Psychotechno, den Aphex Twin ja zufällig auch noch miterfunden hat und meisterlich beherrscht – wenn er denn Bock drauf hat. Ein Album, das haufenweise Ungläubige doch noch die Kurve hin zur elektronischen Musik hat kratzen lassen, insbesondere eben wegen seiner unaufdringlichen Qualitäten.
Bleibt nur noch die Frage: Wie abgeklärt gut muss man sein, um mit 21 eine Retrospektive auf sein Schaffen als Teenie herauszubringen und damit für ein paar Jahrzehnte die Benchmark für moderne elektronische Musik zu setzen? Das, meine Damen und Herren, ist nicht nur die rundeste Aphex Twin-Platte, sondern eins der besten und wichtigsten elektronischen Alben überhaupt.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
16 Kommentare
Auf die Gefahr hin mich unbeliebt zu machen finde ich das Richard D. James Album besser als SAW.
Die ersten beiden Absätze sprechen mir aus der Seele! Das Wort Ambient könnte man auch gegen Minimal-Techno ersetzten.
absolut fantastisches album! besonders "xtal" ist einer der besten elektronischen tracks überhaupt.
zu erwähnen sei auch noch, dass "selected ambient works II" ein verdammt seltsames nachfolge-album ist, aber ebenfalls diese weirdness von aphex twin transportiert - nur eben noch schräger und minimaler.
Richard D. James Album is ne Granata, fett bis zum gehtnichmehr....SAW hab ich jetzt noch gar nich gehört, das wort "Ambient" hat mich bisher immer abgeschreckt.
Finde Teil 2 eigentlich noch Meileinsteiniger.
Hab Aphex Twin schon fast wieder vergessen gehabt. Kannte bisher nur die "Come To Daddy"- EP. Hab mir die Scheibe aufgrund der Review vorhin zugelegt und weil die Elektronik- Abteilung im Saturn auch nicht so pralle aussah. Halt noch diese UK- Techno- Schiene, dafür etwas ruhiger, aber wenn man den Zeitraum betrachtet, schon mehr als beachtenswert. Manche Tunes machen sogar richtig Spaß. Verdient im Grunde das Prädikat zeitlos.
der soundtrack für den vormittag heute