laut.de-Kritik
Catchy Plattitüden am laufenden Band.
Review von David HutzelWährend ein Mediamarkt-Mitarbeiter am Freitagmorgen "Everything Now" ins Regal räumt, laden tausend andere das Album bei iTunes runter. Alles passiert zur gleichen Zeit. Alles ganz normal. Nicht für Arcade Fire. Das kanadische Indie-Kollektiv schwingt auf seinem neuen Werk den Zeigefinger der analogen Abrechnung und präsentiert sich dabei so, als überfordere sie dieses Internet noch immer ein wenig.
"Every song that I've ever heard / is playing at the same time, it's absurd", lautet die prägnante Feststellung von Sänger Win Butler in der ersten Single "Everything Now". Dass er schon immer ein kleiner Hippie war, der plakative Aussagen in seinen Songtexten nicht scheute, das kaufte man bisher gerne mit. Beispielsweise auf dem Debütalbum "Funeral", als er mit Textzeilen wie "MTV, what have you done to me? / Save my soul, set me free" bereits antiquierten Opportunismus von sich gab.
Inzwischen spiegelt sich in Butlers Texten aber umso mehr ein alter Herr mit Zukunftsangst wider. Das ärgert insofern, als dass die Band zu einer Indie-Instanz angewachsen ist, die ernst genommen wird. Win Butlers Haltung und seine Texte haben mit steigender Popularität zwangsläufig mehr Gewicht bekommen. Ab jetzt zaubert jede Belehrung Bono ein Lächeln ins Gesicht. Das sollten Arcade Fire eigentlich wissen. Stadien bespielen sie ja spätestens seit ihrem Grammy für "The Suburbs".
Butler nimmt auf "Everything Now" zwar nicht – wie sein U2-Pendant – die großen moralischen Fragen in den Blick, gibt sich aber als Technik-Skeptiker, der catchy Plattitüden am laufenden Band fabriziert. Solche wie "Silicon Valley is melted back into silicon / we'll find a way to survive" wären auf "Funeral" noch als authentischer Ausruf eines von Weltschmerz geplagten Jungspundes durchgegangen. Genau diese Zeilen stellt die Band in "Put Your Money On Me" ins Umfeld düsterer Arpeggios und lässt sie wahrhaftig erscheinen: Technikkonzerne sind böse, der Mensch braucht das alles gar nicht! Natürlich darf die Band eine solche Meinung kundtun, aber eine solch undifferenzierte darf man den Musikern auch mal übelnehmen.
Da ist es gut, dass "Everything Now" nicht nur aus Text, sondern auch aus Musik besteht. Doch auch hier gab es nach dem Release der Titel-Single Alarm im Arcade Fire-Fanlager: Der von Daft Punks Thomas Bangalter produzierte Song klingt durchweg nach harmlosem ABBA-Pop mit einigen Ekel-Momenten. Natürlich ist die Klaviermelodie eingängig wie einst das Material der Schweden. Auch der dem französischen Musiker Francis Bebey entliehene Flöten-Part bleibt im Ohr. Im Zusammenspiel mit dem eingebauten Mitsing-Moment für Live-Konzerte steht der Song letztlich aber als einkalkulierte Anbiederung an die Masse da.
Noch so ein Fall: "Chemistry", zu dessen Refrain man künftig wohl alkoholisierte Festivalbesucher "I love Rock'n'Roll" grölen und Britney feiern hört. Angenehmer gestaltet sich "Signs Of Life", bei dem Butlers Gesang an die distanziert-kühle Art David Byrnes erinnert, das aber trotz Groove und Saxophon letztendlich etwas dahinplätschert. So geht es einigen Songs auf der ersten Hälfte der Platte: Die Liebe zum Detail ist da, doch das Songwriting eher mau.
Der zweite Teil des Albums versöhnt schließlich. Nicht nur aufgrund von Régine Chassagnes Gesang erinnert "Electric Blue" an die guten Tage von Blondie. "Put Your Money On Me" kann man natürlich eingangs erwähnte Zeile nachtragen, das wäre allerdings ein Fehler. Das Stück wartet mit düsteren, melancholischen Synthesizern auf und setzt Butler als emotionalen Erzähler in Szene, bevor dieser einen energiegeladenen Refrain anstimmt: nach wie vor eine Schlüsselqualität der Band. Der letzte eigenständige Song "We Don't Deserve Love" besteht anfangs aus nicht mehr als elektronischen Drums und schrägen Synthesizern und steigert sich langsam von der ruhigen Ballade zum erhabenen, aber reduzierten und deshalb nie kitschigen Höhepunkt.
Wie beim Vorgänger "Reflektor" ziehen sich allerhand Disco-, Funk- und Souleinflüsse durch "Everything Now". Wirkt dieser Mix auf der ersten Albumhälfte etwas zerfahren, so präsentiert sich die zweite sehr homogen. Darin liegt dann auch die große Stärke der Stücke: Arcade Fire schaffen einmal mehr ein dicht ineinander verwobenes Gesamtkunstwerk, in dem sich die Songs textlich und musikalisch gegenseitig zitieren oder auf vorherige Werke der Band verweisen.
Schlägt man sich nun anfangs durch die paar Songs, die in punkto Songwriting recht abgenutzt klingen, erwartet einen ein musikalisch sehr gutes Album. Den wahren Arcade Fire-Fan schmerzt an "Everything Now" die Erkenntnis, dass die Kanadier ihren Hang zu Opulenz und Kitsch mit größerem Bekanntheitsgrad wohl weiter steigern werden. Vielleicht überschreiten sie in dieser Hinsicht künftig auch öfter musikalisch die Grenzen des vertretbaren Klischees.
Momentan beschränkt sich der bittere Beigeschmack einzig auf ihre Haltung: Die alten, weisen Damen und Herren erheben den skeptischen Zeigefinger. Spätestens wenn ich das Album bei iTunes downloade, ist das der Band aber sicher wieder so egal wie mir, und den Mediamarkt-Verkäufer freut es vielleicht ein bisschen.
21 Kommentare mit 89 Antworten
der untergang einer ehemaligen indie-instanz.
RIP!
Waren echt mal gut, jetzt leider ists vorbei
Es wird immer schlimmer mit dieser Band. Reflektor fand ich ja leider schon grausig, aber die Auskopplungen von diesem Album sind an belangloser Nervigkeit nur schwer zu überbieten.
Dieser Kommentar wurde vor 7 Jahren durch den Autor entfernt.
Ich kann diese Kritik nicht teilen. Ich höre das Album seit Tagen rauf und runter und entdecke immer wieder Neues! Fantastisch.
Reflektor war eine ganz fantastische Platte und gefällt mir viel besser als die Platten davor. Ich hoffe aber sehr, daß "Everything Now" eine Ausnahme bleiben wird.
Mit Reflektor begann der gruselige Abstieg einer einstmals genialen Band!
"The Suburbs" FTW!
Ich mag Songwriting, und finde "The Suburbs" und "Funeral" stellenweise textlich gut und hübsch produziert, aber in Sachen Kompositionen sehr dürftig. Ich bin froh, daß sie mit "Reflektor" weniger die Indiesnobs fütterten, die unbedingt nach ihrem superspannenden Musikgeschmack gefragt werden wollen.
Guter Pop ist meistens hundertmal anspruchsvoller zu schreiben, und das meisterten sie auf der Scheibe. Wie sehr man dabei ins Klo greifen kann, zeigt "Everything Now". Wie so oft gefällt mir das Material am besten, das eine Band in ihrer Übergangsphase schreibt.
Mhh, habe bei Arcade Fire immer das Problem, dass ich Win Butlers Gesangsstimme/-stil stellenweise überhaupt nicht ausstehen kann und das viele Songs für mich unhörbar macht, obwohl sie ansonsten vielleicht sogar ganz gut sind/wären. The Suburbs gefällt mir insgesamt aber trotzdem ziemlich gut. Hat ein paar echt große Songs dabei, ist stellenweise vielleicht aber auch ein wenig zu prätentiös. Reflektor geht mir da von der Machart tendenziell ein bisschen besser rein. Und was ich von Everything Now gehört habe, ist grenzenloser Schrott.
Schön, daß auf laut.de stellenweise auch über Musik gesprochen wird und nicht nur gestritten, welcher Rapper der weniger große Mongo ist.
Geb ich Dir recht
@gleep: So verschieden kann der persönliche Geschmack sein. Gerade Butler's Stimmer wertet AF auf. Zumindest bist The Reflektor kam.
"Schön, daß auf laut.de stellenweise auch über Musik gesprochen wird und nicht nur gestritten, welcher Rapper der weniger große Mongo ist."
Du merkst aber schon noch selbst, dass du derjenige bist, der genau das im Gitarrensegment tut?
Nein, tu ich nicht. Wenn ich im "Gitarrensegment" (was ist das?) gegen etwas stänkere, dann hat das eigentlich immer mit der Musik zu tun.
Mit „Reflektor“ habe ich Arcade Fire erst für mich entdeckt, davor konnte ich nie viel mit denen anfangen. Umso enttäuschter war ich von „Everything Now“. Klasse hat nur „We Don‘t Deserve Love“, anhören kann man sich noch „Signs Of Life“, „Creature Comfort“ und „Put Your Money On Me“.
Reg dich nicht auf Ragism! Der_Ermittler ist ein Feigling, der entweder denkt, nur weil er jemanden kennt, der sich mit Gitarrenmusik auskennt, kann er hier auf einen Kreuzzug gehen und alles anprangern was vermutlich Rapfeindlich ist oder er denkt, mit dir kann er es ja machen. Für letzteres spricht auch die Tatsache, dass er nur einen von drei Personen geantwortet hat, welche sich abfällig über Rapmusik äussern. So oder so, es ist mir scheiss egal was so ein Möchtegern schreibt. Wers braucht.
Ach Karsten, du bist auch ohne Sancho-Zitat auf demselben Hurensohnlevel wie dein Vorbild.
@Ragism
Will eigentlich nicht fronten, aber oft machst du hier mimimimäßig diverse Künstler runter und teilst uns dann mit, wer deine eigentlichen Helden sind. Ja ok, bezieht sich meistens auf die Musik, die Art und Weise ist trotzdem fragwürdig. Aber auch egal, das ist schon wieder out-character von mir
Btw. wo ist eigentlich Craze, wenn man ihn braucht? Ich möchte hier nicht mehr als nötig stattfinden müssen.
Dieser Kommentar wurde vor 4 Jahren durch den Autor entfernt.
Ja, so ist das schon mal mit Meinungen. Manches schätze ich, manches verachte oder/und versteh ich nicht. Ich versuche nach und nach, nur noch die penetrantesten Musiker zu bemäkeln, und dann bestenfalls mit Dingen, die noch nicht angemerkt wurden ????