laut.de-Kritik
Perfekter Chanson-Score für den Ohrensessel.
Review von Michael SchuhMan kann sich jetzt langsam ungefähr vorstellen, wie sich Plattenfirmenangestellte der EMI im Jahr 1988 gefühlt haben, als die formidable Pop-Band Talk Talk ihnen "Spirit Of Eden" vorsetzte. Ein Album, das aufgrund seines radikalen Sound-Kurswechsels die hohen Erwartungen der Industrie implodieren ließ. Mit den Arctic Monkeys hat das insofern zu tun, als auch sie es als formidable Rockband auf ein hohes kommerzielles Tableau geschafft hatten, das zu verlassen für so ziemlich alle Beobachterinnen als abwegige Idee betrachtet wurde.
Die Geschichte ist bekannt: "Tranquility Base Hotel & Casino", schon der Albumtitel klang anstrengend, stieß viele Anhänger vor den Kopf und halbierte 2018 die Verkaufszahlen des Vorgängers "AM" beinahe. Das Album definierte eine neue Ära, weg von der zu Karrierebeginn ungestümen, auf "AM" immerhin noch erkennbaren Gitarrenphase hin zu ausladenden Orchester-Soundscapes. Domino Recordings konnte sich schlecht beschweren: Alex Turner ist nach wie vor einer der populärsten und begabtesten Rock'n'Roll-Songwriter des Königreichs und im Gegensatz zu Mark Hollis widern ihn Liveauftritte ja nicht urplötzlich an.
Auf "Live At The Royal Albert Hall" konnte man 2020 nachhören, dass das Quartett aus Sheffield den Schulterschluss mit dem alten Material gelungen umsetzte. Für 2023 ist erneut eine Tournee geplant in den Mercedes-Benz-Arenen dieser Welt, wo sich bei Songs wie "There'd Better Be A Mirrorball" wieder viele fragen werden, wann genau oder ob überhaupt noch ein Refrain kommt und warum zum Teufel man gezwungen wird, diese elegante und narkotisierende Musik inmitten von 5.000 Menschen zu hören anstatt im Ohrensessel. Andererseits: So introvertiert kann ein Sound nicht sein, wenn sogar Selfie-Persönlichkeiten wie Mia Khalifa dazu twerken.
"The Car", dazu benötigt es keine abgeschlossene A&R-Ausbildung, wird dennoch nicht zum Kassenschlager avancieren. Allein die Anekdote, dass Drummer Matt Helders für den brodelnden Zeitlupen-Synthie-Track "Sculptures Of Anything Goes" als erste Auskopplung votierte, belegt die irritierend-bewundernswerte Fuck-Off-Haltung der Gruppe. Auch klar: In Fankreisen, die sich etwa auf Reddit Bahn brechen, gärt es. Aus Exklamationen wie "Free Matt Helders" spricht die ganze Verzweiflung einer auf Indie-Rock-Dancefloors sozialisierten Generation.
Alex Turner kontert diese Erwartungshaltung mit einer weiteren überragenden Vorstellung als Sedativ-Chansonnier, dessen Stimme selten besser zur Entfaltung kam. "There'd Better Be A Mirrorball" eröffnet das Album auf sehr hohem Niveau mit einer cineastischen Geste, die Turners Zukunft als Score-Komponist in Stein meißelt. Schlummernde Melodramatik im Sepia-Filter, gebettet auf weichsten Streicherarrangements und einem musikalischen Fundament, bei dem jeder Takt so perfekt sitzt wie ein guter Smoking.
Diese Musik benötigt keine Hookline, sie befindet sich im stetigen Fluss, wirkt noch verschlankter als 2018 und kreiert aus Versatzstücken von 60s-Soul und 70s-Funk Momente sich unausweichlich zuspitzender Dramatik. Über der Produktion schwebt sowohl ein Burt Bacharach als auch ein Quincy Jones, darunter macht es Turner nicht mehr, und warum sollte er? Wieder komponierte er die Platte quasi im Alleingang lennonesk am Klavier. Laut Credits ist lediglich Tour-Gitarrist Tom Rowley bei "Jet Skis On The Moat" und "Mr Schwartz" am Songwriting beteiligt und zwar zu jeweils genau 20 Prozent - so viel Akkuratesse muss sein. Gitarrist Jamie Cook bringt es bei "Sculptures Of Anything Goes" immerhin auf 10 Prozent: Es ist die erste Gemeinschaftsarbeit seit dem Debütalbum 2006 und so weit entfernt klingt es dann auch.
Ein richtiges Gitarrenriff verirrt sich selten so in den Vordergrund wie im an Isaac Hayes erinnernden "I Ain't Quite Where I Think I Am". In "Jet Skis On The Moat" ist es alleine schon eine helle Freude, Nick O' Malleys Bassspuren zu folgen, und wer angesichts der Brillanz von "Body Paint" den Zeiten von "Brianstorm" hinterher trauert, sollte sich vielleicht mal fragen, für welche Eigenschaften man Künstler wie David Bowie heute in Ehren hält.
Die Texte sind wieder feinste Lektionen in Kryptik, die Turners Abwehrhaltung gegenüber seinen alten direkten Songzeilen illustrieren, bestes Beispiel: "Lego Napoleon movie written in noble gas-filled glass tubes underlined in sparks" im herrlich funky groovenden "Hello You". Demgegenüber steht der Humor einer Zeile wie "Put your heavy metal to the test, there might be half a love song in it all for you." Der mysteriöse Charakter des dazugehörigen Songs "Mr Schwartz" könnte indes für ein Crew-Mitglied geschrieben worden sein, hier blitzt außerdem kurz Helders' akzentuiertes Drumming auf, das sich ansonsten wieder auffallend uneitel zurück hält.
"The Car" klingt noch kompletter als sein Vorgänger und belegt mit unbeirrbarer Emphase, dass die Arctic Monkeys eine der letzten Headliner-Bands unserer Zeit sind, deren Musik noch Rätsel aufwirft. Alles drumherum sowieso, allein die Frage nach dem Auto-Modell auf dem kargen Cover-Artwork wurde bis in KFZ-Nerdforen getragen (angeblich ein Corolla E90). Ein Hauch von Nostalgie, der schließlich auch die Musik auszeichnet - nur eben nicht diejenige, mit der die Briten mal berühmt geworden sind. Den "Free Matt Helders"-Anhängerinnen gab der Drummer schon 2018 den gut gemeinten Rat: "Legt einfach unsere alten Platten auf".
16 Kommentare mit 7 Antworten
Das inflationäre 5-Sterne-Werfen auf laut.de ist auch nur noch ein Meme, oder?
Ist gerade wirklich bedenklich. Vier Fünfer, ein Vierer auf der Startseite. Stinkt sehr danach, als seien die Rezis am Ende etwa von unterschiedlichen Menschen, und ganz subjektiv vefasst worden...?
scheint außerdem ein gutes musikjahr zu sein. sachen gibt's...
Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.
Ist das lahm...5 Sterne ich brech ins essen.
1/5 für mich.
Versteh den hype überhaupt nicht für die Affen...
Filtern wieder hart. Großartige Platte, die mit jedem Hören besser wird. Unter 5/5 geht hier nichts.
baaaaah! ist ja schön dass sie sich weiter entwickeln... und ich brauch auch kein zweites AM oder Debutalbum... aber DAS HIER hört doch keiner! Ich frag mich wann um alles in der Welt eine Situation eintreten sollte, zu der diese Musik dann passt. Mann ey, wenn ich mal abgewrackt an irgendeiner Hotelbar eines traurigen amerikanischen Hotels sitze, in dem seit 1972 die Zeit stehen geblieben ist und ich so besoffen bin, dass ich alles nur noch in Zeitlupe sehe, dann sagt bescheid, dann hör ich mir THE CAR an...
Boah ist das öde
Jetzt ist das Ding zwei Wochen draußen und ich kann mich immer noch nicht entscheiden, wie es mir gefällt. Ich glaube, ich finde es vor allem gut gemacht und lasse, dass mal als Diss hier stehen.