26. Mai 2017

Griechische Mythologie, Carl Jung und angstgetriebene Exklusion

Interview geführt von

Das verflixte dritte Album steht an: "Hurricanes And Halos" soll laut eigener Aussage Avatariums Sound definieren. Es hat sich einiges getan beim schwedischen Doom-Pop-Quintett und Anlass genug, Sängerin Jennie-Ann Smith einige Worte bezüglich Besetzungswechseln, Realitätsflucht und jungen Mikrokolleginnen zu entlocken.

Leif Edlings Kopfgeburten sind seit Mitte der 1980er-Jahre Eckpfeiler der schwedischen Metalszene. Mit Candlemass prägte er den Doom entscheidend mit, mit Krux schuf er einen im selben Feld eine edle Perle, mit Avatarium pumpt er seit 2012 Pop in die Strukturen des Genres. Wie schon Krux ursprünglich als Kollaboration mit Opeths Mikael Åkerfeldt geplant, entwickelte sich die Band schlussendlich doch in eine etwas andere Richtung als zunächst gedacht. Neben Edling als ausschließlich im Hintergrund – kompositorisch und beratend – für die Band aktives Mitglied, formen den Kern Avatariums Soen-Gitarrist Marcus Jidell und Frontfrau Jennie-Ann Smith. Mit letzterer verabredeten wir uns anlässlich des kommenden Albums "Hurricanes And Halos" zum Telefongespräch.

Hi Jennie-Ann, wie sieht denn eigentlich dein Tagesablauf momentan aus? Volle Konzentration auf Avatarium oder arbeitest du?

Naja, die letzten Wochen war ich leider ziemlich mit Interviews eingespannt. Freut uns natürlich, dass so ein großes Interesse besteht und über Nuclear Blast alles so gut läuft. Die Albumproduktion und Promo-Arbeit nahm zuletzt schon viel Zeit in Anspruch. Aber ja: eigentlich arbeite ich und studiere auch. Ich studiere Psychotherapie an der Uni Stockholm und arbeite daneben als psychosoziale Beraterin im Gesundheitswesen.

Wie viele Semester stehen noch aus?

Zwei noch. Weißt du, ich bin ausgebildete Sozialarbeiterin. Wenn ich dann bald fertig und Psychotherapeutin bin, werde ich für insgesamt fünf Jahre studiert haben. Ein langer Weg, haha. Aber es ist toll, mit Musik arbeiten zu können – und auch daneben noch Teilzeit als Musikerin aktiv sein zu können.

Klingt aber, als wäre nicht mehr viel Zeit übrig.

Nee, du hast so recht...

Naja, ich glaube Glückwünsche zum neuen Album sind angebracht.

Dankeschön!

Was bei mir neben den vielen Soli am meisten Eindruck hinterlassen hat, sind die Refrains. "Starless Sleep" zum Beispiel. Schreibst du die Vocalmelodien eigentlich parallel zum Musikbett oder kommen sie später dazu?

Bei diesem Album war es so, dass Leif Edling sechs Songs beigesteuert hat und Marcus Jidell und ich zwei. Bei meinem eigenen Songwriting-Prozess variiert das würde ich sagen. Entweder Marcus kommt mit einer Idee an und wir arbeiten gemeinsam daran oder wir werfen Ideen hin und her. "Starless Sleep" stammt von Leif. Als er uns den Song vorgestellt hat, stand die Melodie im Grunde schon. Aber er hat dann noch ein bisschen an den Details und den Lyrics gearbeitet, bis es Zeit wurde, die Vocals aufzunehmen. Viel Arbeit, bis alles fertig ist.

Sprich, wenn Leif euch einen Song schreibt, liefert er die Gesangsmelodien auch gleich mit? Oder hat er eher einen groben Entwurf und du übernimmst dann den Feinschliff?

Naja, er schreibt schon seine Melodie. Aber klar, es kommt dann immer darauf an, wie ich sie interpretiere. Das Arrangement machen wir dann ja mit der Band. Wir sind zuerst alle Songs gemeinsam durchgegangen und dann für zwei Wochen in den Proberaum, um Sound, Tonarten, Arrangement und so weiter abzustecken. Ich kann nur als ich selbst singen und währenddessen formen sich die Songs, die ich nicht selbst geschrieben habe, natürlich. Ich hab' schließlich nur meine Stimme, mein Timing und meine Art zu betonen. Manchmal ist es nötig, die Melodien ein wenig zu beugen oder zu verändern.

Leif ist ja nicht mehr als offizielles Bandmitglied gelistet...

Ja, aber er unterstützt uns immer noch als Songwriter. Live war er ohnehin noch nie dabei. So viel hat sich also nicht geändert. Es sollte einfach fair gegenüber den anderen sein: Wir haben ja einen Bassisten, der auch live mit uns unterwegs ist – Mats Rydström, einer von Schwedens besten Bassisten. Er hat das gesamte Album eingespielt und es wäre nicht fair gewesen, wenn wir ihm diesen Platz nicht zugestanden hätten. Ich glaube, wir haben einen ganz guten Weg gefunden, das in der Band zu regeln. Leif ist eine kreative Naturgewalt. Und wir haben Glück, mit ihm arbeiten zu können. Er ist in diesem Business seit den 80ern unterwegs. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, wir können einfach aus dem Hier und Jetzt starten. Abgesehen davon, dass er ein sehr fähiger Komponist ist, verfügt er über all dieses Wissen, wie das Business läuft.

Also wird er auch bei künftigen Alben noch mit an Bord sein.

Wenn wir alle noch am Leben sind, ja, haha. Weißt du, ich krieg die Frage hie und da mal gestellt und normalerweise antworte ich, dass es sich so anfühlt, als würden wir mit Avatarium gerade erst beginnen und hätten mit diesem Album gerade erst definiert wie wir klingen wollen. Das hier ist das beste Album, das wir bisher gemacht haben. Wir haben gemeinsam einen Weg beschritten, den wir glaube ich weitergehen sollten. In einer Band zu spielen ist etwas einzigartiges und du musst es interessant und inspirierend für alle Involvierten halten. Und wenn wir schaffen, das beizubehalten, bin ich sicher, dass wir alle auch zukünftig miteinander arbeiten wollen. Wie bei allen Dingen kann man das freilich nicht vorhersehen, aber wir haben zumindest den Willen dazu.

"Ich war skeptisch, ein Kind singen zu lassen"

Vor ein paar Jahren habt ihr die EP "All I Want" veröffentlicht. Sie hat finde ich den Schritt in "jamlastigeren" Sound im Vergleich zum Debüt markiert. Ich nehme an, das kam vor allem durch die Liveshows – die begannen ja erst richtig nach dem Release des ersten Albums.

Ja, live zu spielen hat definitiv die Richtung ein wenig geändert – besonders bei "Hurricanes And Halos"! Wir wollten ein Album machen, das unser Liveset komplettiert. Wir wollten mehr Uptempo-Songs, mehr straight-forward-Songs. Ich glaube, das ist und gelungen. In der Livesituation kriegst du erst die volle Energie des Uptempo-Materials mit. Die Single "Into The Fire/Into The Storm" ist in meinen Augen so etwas wie eine Sneak-Preview davon, was dich auf dem Album erwartet: straight-forward, kraftvoll. Es hängt eben alles vom Material ab. Es braucht ein bisschen Zeit, bis man einen Backkatalog angehäuft hat, aus dem man dann für ein starkes Set auswählen kann. In diesen Bereich kommen wir so langsam.

Ich fand eigentlich nicht, dass euren Liveshows bisher etwas gefehlt hat.

Haha, danke. Natürlich stehen wir immer noch mit einem Bein in unserer Doom-Tradition. Wir arbeiten mit diesem gewissen Erbe, das wir haben: diese nordische Heavy/Doom-Basis, von der wir kommen. Das ist alles immer noch da. Aber es wäre bedeutungslos, immer wieder dasselbe Album zu machen. Ich habe einen Drang, Situationen und Räume zu schaffen, in denen ich wachsen kann. Avatarium wurde für mich zu einem solchen Raum.

Ihr habt ja wie gesagt zwei neue Mitglieder in der Band – an Orgel und Bass. Wie seid ihr überhaupt zusammengekommen und wie kam es zur Trennung von Carl Westholm und Anders Iwers?

Anders lebt am anderen Ende des Landes, was die Proben schwierig machte. Wir haben Ambitionen als Liveband und entsprechend sind die Proben essentiell. Um alles zu vereinfachen, haben uns nach einem Bassisten in Stockholm umgesehen, der auch bereit war zu touren. So sind wir auf Mats gestoßen. Er ist ein großartiger Bassist, aber eben auch sehr beschäftigt. Wir hofften wirklich, dass er Lust hätte, uns beizutreten. Und er hat ja gesagt! Wir haben dann erstmal ein paar Shows mit ihm gespielt und in Stockholm kam dann Leif, um ihn zu sehen, und meinte: "Was immer ihr tut, verliert diesen Typen nicht." Bei "The Girl With The Raven Mask“ hat Leif ein paar Songs eingespielt und ein paar Anders. Diesmal meinte Leif, dass Mats alles machen sollte.

Und zu Carl: Er ist Kardiologe, hat also noch diese andere Karriere. Und daneben betreibt er auch noch eigene Soloprojekte. Wir hatten jede Menge Spaß, mit ihm zu touren, aber letztendlich hat eben die Zeit gefehlt. Ich finde, es war sehr reif von ihm, diese Entscheidung zu treffen. Rickard Nielsson ist ein alter Freund von uns und arbeitet als Freelance-Musiker hier in Stockholm. Er ist Teil der schwedischen Künstlerelite und war schon Fan unserer bisheriger Arbeit. Ich glaube, das erste, was ich von ihm für Avatarium gehört habe, war sein Solo in "Into The Fire/Into The Storm". Und das war schlicht: "Ui. So gut!" Ich dachte mir echt: "Okay, jetzt musst du selbst echt abliefern." (lacht) Wir haben ein tolles Line-Up und inspirieren uns gegenseitig zu noch besseren Leistungen.

Neben den Genannten gibt es ja noch einen "Neuzugang" auf dem neuen Album. Bei "Medusa Child" singt ein Kind ...

Oooh, ja! Das ist Edith! Sie ist neun. Vollmitglied ist sie noch nicht – gibts dafür eigentlich eine Altersgrenze? Aber ja, sie hat uns unterstützt. Leif hatte die Idee, in dem Song ein Kind singen zu lassen. Ich war zunächst etwas skeptisch. Hätte heikel werden können ... Aber Edith ist meine Freundin und ich hab sie gefragt, ob sie Lust hat. Sie hat es wirklich sehr ernst genommen und alles kam sehr natürlich aus ihr heraus. Sie gibt dem Song ein ziemlich einzigartiges Flavour.

Ja, die Melodie ist irgendwie merkwürdig, ungewohnt, aber verdammt hooky.

Total. Ich verwende in der Strophe eine bestimmte Gesangstechnik und der Chorus ist irgendwie doomig, aber auch jazzig – Cocktail-jazzig. Und dazu kommen dann diese gespenstischen Kindervocals. Einzigartig und cool. Mit dem Track bin ich echt glücklich. Ich hätte nicht gedacht, dass das so gut klappt.

Und übrigens: wir hatten noch ein paar zusätzliche Musiker mehr. Zum Beispiel Michael Blair an der Percussion, mit dem wir schon seit der "All I Want"-EP kollaborieren. Er ist Amerikaner, lebt seit einigen Jahren in Stockholm und hat schon mit Leuten wie Tom Waits und Lou Reed gearbeitet. Er bringt noch mal ein gewisses Extra in unsere Platten. Und wir hatten jetzt zum ersten Mal Backing-Vocals. Drei tolle Sänger, die mich allesamt angespornt haben.

"Denk darüber nach, wie sich ein ausgegrenztes Kind fühlt"

Gibt es etwas, was du dir für die Zukunft noch vorstellen könntest, hinzuzufügen?

Wenn es nach mir ginge, würden wir einen Percussionisten mit auf Tour nehmen. Das würde eine Menge Möglichkeiten eröffnen. Sollte das mal klappen, wär' das echt cool. In dieser Richtung kann man sicher anknüpfen. Zusätzliche Musiker bedeuten immer zusätzliche Kreativität.

Sprechen wir mal über die Texte. Ich würde die Richtung mal grob als "düsteres Hippietum" beschreiben. Letztes Jahr hattet ihr dann ein sehr modernes Musikvideo zu "Pearls & Coffins". Wie geht das zusammen? Versucht ihr eher Realitätsflucht zu ermöglichen oder Metaphern auf die Realität zu bilden?

Klar ist es metaphorisch. Und auch der Gedanke der Realitätsflucht trifft voll zu: Nicht nur Texte, sondern vor allem auch Musik an sich bietet mir einen Raum dafür. Damit bin ich wahrscheinlich auch nicht allein. Was unsere eigenen Lyrics angeht, ziehen sich seit den Anfangstagen als roter Faden diese großen existenziellen Fragen durch – Leben, Tod, Licht, Schatten, die Bedeutung von Existenz. Es ist poetisch und voller Metaphern. Du kannst das als Manifest sehen oder auch als vielschichtiges Konstrukt, das verschiedene Ebenen und Optionen zum Nachdenken anbietet.

Ich persönlich mag es gar nicht, wenn mir Lyrics erklärt werden. Ich möchte selbst nachdenken! Joni Mitchell – eins meiner großen Vorbilder – hat mal in einem Interview gesagt: "Wenn ich den Text erklären würde, würde mein Publikum nur mich sehen, wenn es den Song hört. Das größte Geschenk für einen Songwriter ist es, wenn der Hörer beim Hören sich selbst sieht." Da stehe ich. Es ist ein Geschenk, wenn der Hörer über seine eigenen Erfahrungen nachdenkt. Nimm "Medusa Child" zum Beispiel: Klar kannst du über die griechische Mythologie nachdenken. Oder im Sinne von Carl Jung über das psychologische Dilemma von Anima und Co. Oder du denkst darüber nach, wie sich ein Kind fühlt, das ausgegrenzt wird. Oder du denkst über Politik nach, diese schrecklichen Right-Wing-Parteien und die Winde, die derzeit in Europa wehen – die angstgetriebene Exklusion, in die Leute verfallen. Wenn du willst sind dort so viele Ebenen.

Im Endeffekt erzählst du damit mehrere Geschichten statt nur einer pro Song.

Ja, genau!

Das führt mich zum nächsten Punkt: Denn freilich gibt es in der Band nicht nur deine Perspektive, sondern noch die fünf anderer Leute. Ist es manchmal schwierig, gleichzeitig dich, aber auch die Band zu repräsentieren? In Interviews, auf der Bühne ...

Oh ja, definitiv! Alles was du jetzt gerade hörst, ist ja durch mich gefiltert – du hörst meine Wahrnehmung, meine Gedanken. Das möchte ich echt betonen. Aber wir sind trotzdem eine Band und das, was du auf dem Album hörst, ist das Resultat einer Gruppenkollaboration. Wir haben diese Songs durch tolle Handwerkskunst zu dem Album arrangiert, das es nun geworden ist. Es ist extrem schwierig, das in Interviews zu repräsentieren, aber ich tue mein Bestes, um allen gerecht zu werden.

Gab es Dinge, bei denen ihr euch uneins wart – in Bezug auf das neue Album zum Beispiel?

Naja, in einer Band zu sein – genauso auch im Job – bedeutet eben, manchmal Kompromisse eingehen zu müssen. Du musst schauen, was dir wichtig ist und dir gewissermaßen "deine Schlachten auswählen". Es wäre ungesund, bei allem übereinzustimmen. Es ist notwendig, verschiedene Ansichten und Gedanken zu haben. Das macht die Band großartig und sorgt dafür, dass neue Ideen aufkommen.

Zum Abschluss: Was würdest du dich selbst fragen?

Vielleicht, welche Hoffnungen ich für die Zukunft habe. Und diese sind, dass das Album gut aufgenommen wird und dass die Leute sich Zeit nehmen, zuzuhören und die emotionale Message zu reflektieren. Denn es ist sehr emotional. Es ist wild, feurig, dynamisch, zerbrechlich und kraftvoll. Ich hoffe, das Album erfährt ein bisschen Liebe, haha.

Außerdem von Jennie-Ann bestätigt: Avatarium planen eine Europa-Tour für September 2017.

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