laut.de-Kritik

Selbstbewusstes Statement einer Band, der derzeit alles gelingt.

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Unter dem meist ehrfürchtig geraunten Begriff "Flow" versteht man in der Kunstszene einen jener selten zu erreichenden Momente, in denen die Künstler von einer quasi-mystischen Energie getragen zu sein scheinen. Es ist die Energie, die dafür sorgt, dass alle Teile ineinander greifen, jede Akzentuierung sitzt und jede spontane Variation zu gelingen scheint. Flow ist, kurz gesagt, ein Moment größter Euphorie und Unverwundbarkeit.

Gleichzeitig ist Flow, wie Generationen von Kunstschaffenden frustriert erfahren mussten, aber auch ein höchst unkontrollierbarer und allzu vergänglicher Zustand. Da kann man noch so sehr versuchen, an den gleichen Stellschrauben zu zerren – was am einen Abend noch für einen tranceartigen Siegestaumel sorgte, lässt sich am nächsten nur selten wiederholen.

Es mutet daher regelrecht unfair an, dass der berühmt-berüchtigte Flowzustand bei der New Yorker Band Big Thief auf wundersame Weise das ganze Jahr über anzuhalten scheint und die Musiker zu neuen Höhen treibt. Und dieses Selbstbewusstsein, gerade in der Form ihres Lebens zu sein, merkt man der Band in jeder Minute an.

Dabei hätte sich das Quartett für die zweite Hälfte 2019 eigentlich bequem zurücklehnen können. Immerhin hat die Band erst im Mai mit "U.F.O.F." einen ganz heißen Kandidaten für den Titel 'Album des Jahres' veröffentlicht und dem reichlich angestaubten Genre des Indie-Folk, bei dem man glaubte, es sei spätestens seit Beginn dieses Jahrzehnts vollends auserzählt, noch einmal zu ungeahnter Größe verholfen.

Wenn man einmal einen solchen Lauf hat, geht einem eben auch das zweite fantastische Album innerhalb weniger Monate einfach von der Hand. Nachdem auf "U.F.O.F." noch die verschiedensten Facetten der (Un)Heimlichkeit des Übernatürlichen ausgelotet wurden, geht es auf dem irdischen Zwilling deutlich rauer und resoluter zu. Das gilt für die musikalische Ebene des live aufgenommenen Albums genauso (bestes Beispiel das sich über sechs Minuten hochschaukelnde "Not") wie für die Texte von Frontfrau Adrianne Lenker.

Durch den Wegfall des mystischen Überbaus sind diese bis auf die Essenz destilliert und teilweise bis über die Schmerzgrenze hinaus vertraulich und direkt. Die kurz angerissenen Bilder wie in "Shoulders" treffen die Hörenden wie ein Schlag in die Magengrube: "They found you at the corner. Your head was doubled over. And the blood of the man who killed my mother with his hands is in me, it's in me, in my veins"

Die Stücke entfalten auch daher eine solche Kraft und Eindringlichkeit, weil die Band und insbesondere ihre Sängerin ihre Phrasierungen mit traumwandlerischer Sicherheit genau richtig setzen. Unterstützt von ihren wendigen Mitmusikern, die auf den Moment reagieren, holt Lenker alles aus ihrer Stimme heraus, beschwört im einen Moment, jault und schreit im nächsten.

"Two Hands" ist das Zeugnis einer bestens eingespielten Gruppe, der im Moment alles gelingt. Auch wenn man den übernatürlichen Zwilling noch gar nicht recht verdaut hat, muss man der Band für ihren Arbeitseifer dankbar sein. "Two Hands" ist ihr zweites herausragendes Album in diesem Jahr und dem Vorgänger in punkto Ehrlichkeit und Direktheit sogar überlegen. Und wer weiß, ob die Musiker je wieder so gut sein werden wie in diesem Jahr.

Trackliste

  1. 1. Rock And Sing
  2. 2. Forgotten Eyes
  3. 3. The Toy
  4. 4. Two Hands
  5. 5. Those Girls
  6. 6. Shoulders
  7. 7. Not
  8. 8. Wolf
  9. 9. Replaced
  10. 10. Cut My Hair

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