laut.de-Kritik
Die Magie der Monotonie.
Review von Alexander CordasBisophere-Kopf Geir Jenssen macht seit Anfang der 80er Jahre Musik. In der Band Bel Canto engagierte er sich auf zwei Longplayern, ehe er die Combo verließ. Seitdem wandelt er mehr oder minder auf Solo-Pfaden. Er findet zwar immer wieder andere Musiker für temporäre Projekte, aber seine Arbeiten unter dem Deckmantel Biosphere bilden die wohl bekanntesten Outputs des Norwegers.
Als Jenssen mit "Microgravity" (1991) und "Patashnik" (1994) die Elektro-Szene überraschte, dachte man, er sei das neue Wunderkind des Progressive House. Nach letztgenanntem Album herrschte jedoch drei Jahre Funkstille. Fast aus dem Nichts heraus trat "Substrata" auf den Plan und machte mit einem Schlag sämtliche Erwartungen an Power-Beats aus dem hohen Norden zunichte. Jenssen warf fast sämtliche Rhythmen über Bord und präsentierte der staunenden Öffentlichkeit sein erstes Ambient-Album.
Schon bei Erscheinen sorgte "Substrata" für hohe Wellen im eher ruhigen Ozean des Genres. Das geflügelte Wort vom Klassiker war schnell bei der Hand und aus heutiger Sicht vollauf gerechtfertigt. Wie kaum ein anderer Künstler übersetzt der Skandinavier Natur in Töne. Sei es mittels Soundscapes, Field-Recordings, unterstützend mit Sprach-Samples oder eingefangen in simplem Rauschen. Zu keiner Zeit hat man das Gefühl, hier nur unterkühlter Elektronik zu lauschen, obwohl die Grundstimmung des Albums kalt und eisig klingt.
Zu Beginn hört man in "As The Sun Kissed The Horizon" das Geräusch eines fliegenden Propellerflugzeugs, viel mehr findet nicht statt. Erst "Poa Alpina" rollt den Teppich langsam und bedächtig aus. Dräuende Keyboard-Flächen untermalen sparsam getupfte Klänge, die entfernt als Akustik-Gitarren wahrnehmbar sind, aus dem Hintergrund treten langsam weitere Klangschichten hervor. Dass Geir Jenssen der Natur verbunden ist, verdeutlichen auch die Namen seiner Klang-Skulpturen. Außer einem Tal in Nepal ("Chukhung") und einem Land der griechischen Mythologie ("Hyperborea") zieht er vor allem Pflanzen als Inspiration zur Namensgebung heran. Als da wären: die Echte Bärentraube ("Uva-Ursi"), das Alpen-Rispengras ("Poa Alpina"), die Schuppenseggen ("Kobresia"), das Katzenpfötchen ("Antennaria") und die Leimkräuter ("Silene").
Die mystische und geheimnisvolle Atmosphäre erfährt mit zwei Sprachsamples eine zusätzliche Verstärkung. Man muss nicht einmal wissen, dass die Vokal-Sequenzen aus "Twin Peaks" ("Hyperborea") und von Aufnahmen des russischen Telepathen Karl Nikolaev ("Kobresia") stammen, um hypnotisch in ihren Bann gezogen zu werden.
Eine nicht zu verachtende düstere Komponente besitzt "Substrata" ebenfalls. Polare Kälte, Einsamkeit, lebensfeindliche Umgebungen: Themen, die Jenssen auf späteren Alben wieder aufgreift, finden hier ihren Anfang. "Antennaria" oder das paranoid dahin wabernde "Uva-Ursi" sind beileibe keine Vorboten für den herannahenden Frühling und gipfeln in "Sphere Of No-Form", das spielend leicht als klangliche Untermalung für Horror-Games oder -Filme herhalten könnte, damit sich deren Konsumenten mal wieder ordentlich vor Schreck einnässen.
Die Intensität, mit der Biosphere eine sonische Drohkulisse aufziehen, lässt sich fast schon mit Händen greifen. Erst das Ende des Konstruktes und das abschließende "Silene" lösen die beklemmende Stimmung wieder auf. "Substrata" ist eines dieser Ambient-Alben, die man problemlos nebenher hören kann. Dennoch besitzt dieses Werk viele Widerhaken, die sich im Gehör festsetzen. Die Wahrscheinlichkeit ist entsprechend hoch, dass man als Hörer irgendwann der Magie dieser bezaubernden Monotonie verfällt.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
7 Kommentare mit 2 Antworten
Absolut gerechtfertigter Meilenstein!
oh ja, und wie.
Wieder was zum Nachholen. Hab' zwar nach den ersten zwei Songs, die ich angespielt habe, den Verdacht, dass ich das nicht genügend wertschätzen werde, aber Probieren geht über Studieren.
sehr geiles album. trotzdem hatte ich immer brian eno im hinterkopf. und da fällt die entscheidung wirklich nicht schwer
»Chukhung« halt ich für den stärksten Track. Auf dem Album vermiss ich aber noch »Freeze-Frames« und »Manicure« mit diesem affektierten Streichersample.
"Freeze-Frames" und "Manicure" werden gesondert in der meilenstein 2-rubrik behandelt.
Ein würdiger Meilenstein, der auch die Hoffnung nährt, dass mal ein Klaus Schulze in dieser Rubrik an die Reihe kommen könnte.
volle zustimmung! oder aber etwas von brian eno. auch wenn ich lieber ein pop-album aus seiner "frühphase" bei den meilensteinen sehen würde. auch ein kandidat: 'zauberberg' von gas.