24. Juli 2013

"Die Neubauten haben Crowdfunding erfunden"

Interview geführt von

Blixa Bargeld? Schwieriger Interviewpartner, heißt es immer wieder über den Kopf der Einstürzenden Neubauten. Muss man da was drauf geben? Eigentlich nicht, aber manchmal fängt es schon komisch an ...Pünktlich zum verabredeten Termin öffnet sich die Tür zum Appartment in einem Hotel irgendwo in Berlin-Mitte. Teho Teardo, der italienische Filmmusiker, mit dem Bargeld eine Kollaboration eingegangen ist und diese in ein Album mit dem Titel "Still Smiling" gegossen hat, sitzt an einem Tisch in der Küchennische des Zimmers. Bargeld steht sogleich auf, bietet ein Wasser an - sehr gern, danke! - stellt aber, nachdem er Teardo und sich ein alkoholfreies Bier geöffnet hat, nur ein leeres Glas auf den Tisch. Ist das jetzt nur Nachlässigkeit oder Absicht? Sollte man besser noch mal nachfragen oder ist dann gleich alles vorbei?

Man könnte sich jetzt auch kurz zum Wasserhahn umdrehen und das Glas selbst befüllen, aber es soll ja Menschen geben, die es nicht so gern haben, wenn man sich verhält, als wohnte man auch in ihrem Appartment. Fürwahr eine schwierige Situation und im Grunde nur konsequent: Irritation und Unsicherheit beim Gegenüber und Publikum hervorzurufen ist schon immer eine Stärke Bargelds und funktioniert auch hier.

Für das Gespräch selbst gab es nur eine Vorgabe: Bitte nicht so viele Fragen zu den Einstürzenden Neubauten. Das sollte klappen, schließlich bieten die einzelnen Songs von "Still Smiling", auf dem Bargeld zwischen italienischen, deutschen und englischen Texten und Textzeilen hin- und herspringt, sehr viel Gesprächsstoff. Und genauso wie auf Platte hält es Bargeld auch im Interview und beginnt schon mal einen Satz auf deutsch, beendet ihn auf englisch und schafft es, dazwischen auch noch die eine oder andere italienische Vokabel unterzubringen. Wie das eben so ist, wenn mit Teardo und Bargeld zwei Leute aufeinander treffen, die die Muttersprache des jeweils anderen nicht beherrschen und sich trotzdem gut miteinander unterhalten.

Herr Teardo, Sie haben mit Blixa Bargeld bereits auf ihrem Album "Film.Music.Film" zusammengearbeitet und jetzt gemeinsam ein komplettes Album eingespielt. Wie ist die Zusammenarbeit zwischen ihnen entstanden?

Teho Teardo: Wir haben erstmals im Jahr 2009 gemeinsam an einem Theaterstück mit dem Titel "Ingiuria" gearbeitet. Es war ein sehr interessanter Prozess: es zu entwerfen und es mit Leben zu füllen. Als ich am Soundtrack zum Film "Una vita tranquilla" gearbeitet habe, habe ich ein Lied mit diesem Titel in englischer Übersetzung geschrieben: "A quiet life".

Ich fand, dass Blixa die perfekte Wahl für den Text und die Stimme sein würde, also habe ich ihn kontaktiert, wir trafen uns in San Francisco und nahmen es auf. Nach vielen Jahren des Komponierens ausschließlich instrumentaler Musik habe ich nach einer Stimme Ausschau gehalten und weil ich Blixa und seine Arbeit immer sehr geschätzt habe, fanden wir wieder zueinander, um ein komplettes Album aufzunehmen.

Wie funktionierte diese Kollaboration?

Blixa Bargeld: Jedenfalls nicht auf die moderne Art und Weise, sich gegenseitig Dateien zu schicken. Nein!

Teardo: Wir haben uns getroffen. Wir haben Zeit im gleichen Raum verbracht. Ich hatte zunächst ein paar musikalische Skizzen entworfen, einige Ideen zu Papier gebracht. Die habe ich ihm geschickt und wir haben uns per E-Mail darüber ausgetauscht. Wir sind alte Männer, aus klassischem Holz geschnitzt. Wir haben uns in einem Studio in Berlin-Wedding und in meinem Studio in Rom getroffen und immer zusammen gearbeitet, der eine am Mikro, der andere am Computer. So haben wir das Album tatsächlich im gleichen Raum verwirklicht.

Ich kann mir vorstellen, dass es ziemlich schwierig war, immer zusammenzufinden. Herr Bargeld, sie hatten ja im Frühjahr auch ein Performance-Stück in Peking entworfen, haben auch eine Zeitlang dort und an verschiedenen Orten gelebt ...

Bargeld: Nein, ich hatte zwar diese Performance in Peking, aber ich lebe nicht mehr dort. Ich habe inzwischen eine kleine Tochter und diese Stadt ist nicht der richtige Ort für sie, also sind wir umgezogen. Ich bin inzwischen ganz und gar wieder zurück in Berlin, seit meine Tochter in den Kindergarten geht. Wir haben beide Kinder.

Teardo: Kinder im gleichen Alter.

Bargeld: Genau. Wir haben beide ein starkes Familienunternehmen laufen.

Der erste Song ihres Albums "Mi Scusi" beginnt gleich auf italienisch. War das etwas Neues für Sie und ist das eine andere Art des Singens und auch des Denkens?

Bargeld: Si! Der Plan, aus diesem Album ein polylinguales Machwerk zu machen, war von Beginn an da. Das hat bei mir auch eine Tradition: Seit 1993 habe ich immer wieder mehrsprachig gesungen und Sprachen gemischt, aber italienisch ist neu. Ich hatte mir dazu eine Sprachtrainerin genommen, die versucht hat, meine italienische Aussprache zu verbessern. Daneben hatte ich einen italienischen Germanisten, mit dem ich an den Texten arbeiten konnte.

"Mi Scusi" ist tatsächlich unabhängig von der Musik geschrieben worden, und es sollte auch das erste Stück auf dem Album sein. Nach dem Motto: Wenn ich mich gleich entschuldige, dann kann ich danach eigentlich machen, was ich will. Das habe ich dann appliziert auf eine von den Skizzen, die mir Teho geschickt hat. Von da an ging es weiter: Die anderen Teile, diese deutsch-italienischen Reflektionen habe ich erst geschrieben, nachdem der Rest schon da war. Es war definitiv konzeptionell, das auf diese Art zu machen.

"Die Sprache ist die Verlängerung des Körpers"

Es gibt dort die Zeile "Singe ich in einer anderen Sprache, kommen die Metaphern mit". Wie war für Sie das Texten in italienischer Sprache?

Bargeld: Die Strophen habe ich in deutsch geschrieben und meinem Übersetzer geschickt und dann hinterher wieder – sozusagen mundgerecht – verbessert, damit sie sich besser singen lassen. Die Sprache ist ja eine Verlängerung des Körpers und das ist eigentlich die Reflektion in diesem Stück: Bin ich der derselbe in einer anderen Sprache? Kann ich in einer anderen Sprache küssen? Also habe ich meinen Übersetzer gebeten, mir eine Liste italienischer Metaphern zu schicken, die den Körper beinhalten.

Am besten finde ich "Me gambe diciamo giacomo giacomo", was fantastisch ist, es ist eine sehr altmodische Formulierung. Es heißt wörtlich "Meine Knochen sagen Giacomo Giacomo." Was im Deutschen meint, weiche Knie zu haben. Deshalb habe ich darüber nachgedacht, wie ich in einer anderen Sprache "ich habe weiche Knie" sagen kann.

Lied Nummer zwei "Come Up And See Me" wirkt auf mich wie die Schilderung von Großstadtgefahren, die sie beobachten und mit einem Schulterzucken kommentieren.

Bargeld: Sie haben das Recht, alles was sie möchten, in den Texten zu sehen. Ich werde niemanden davon abhalten. Meine Erfahrung ist allerdings, dass man beim Versuch, die Texte zu erklären, ihnen den Charme nimmt. Wenn ich ihnen erklären würde, wie jede Zeile entstanden ist und woher sie kommt – alles hat natürlich einen Bezug zu irgendetwas - dann würde ich dem ganzen Stück seine Anziehungskraft nehmen. Aber es gibt ein Wort in ihrer Frage, das mir nicht gefallen hat: Schildern!

Ich schreibe nicht über etwas. Wenn man es eindampft, dann kann man vielleicht sagen, ich schreibe über dies und jenes. Aber ich habe nie versucht, Statements abzugeben in dem Sinne, dass bestimmte Dinge in der Welt so oder so seien. Ich schreibe nicht diese Art von Texten. Ich schreibe Sachen auf und versuche sie auf unübliche Art und Weise zu kombinieren. Ich versuche Dinge zu verbinden, die so noch nicht miteinander in Zusammenhang gebracht worden sind, um neue Einblicke zu erlauben, neue Türen zu öffnen, wo vorher keine Türen waren. Ich schreibe zum Beispiel in dem Song "Buntmetalldiebe" nicht wirklich über Buntmetalldiebe.

Sehr gut, dass sie das jetzt schon sagen, ich habe zu "Buntmetalldiebe" ohnehin noch ein paar Fragen. Aber zuvor möchte ich auf den dritten Song der CD-Version eingehen.

Bargeld: Ist das nicht "Buntmetalldiebe"?

Nein, das ist Lied vier.

Bargeld: Welches ist das dritte?

"Axolotl".

Bargeld: Ah, Axolotl, si!

Der Axolotl ist ja ein mexikanischer Schwanzlurch, der als Dauerlarve auftritt.

Bargeld: Das mit der Dauerlarve hatte ich noch nicht gehört, aber das ist tatsächlich der Punkt bei der Sache.

Also dieses ewig Unvollendete?

Bargeld: Ja, er zeugt in einem kindlichen Zustand. Es gibt da einen brillanten Essay eines italienischen Philosophen.

Teardo: Giorgio Agamben.

Bargeld: Giorgio Agamben, genau. Der übrigens in Deutschland bekannter ist als in Italien.

Teardo: Von der Universität von Venedig.

Bargeld: Ja, das ist auch die Gegend, aus der Theo kommt. Und es gibt diesen Essay namens "The idea of infancy" in Agambens Buch "The idea of prose", wo dieser Axolotl auch vorkommt. Wir haben vorhin ein Interview gegeben, bei dem jemand fragte: Axolotl? Ist das "Axolotl Roadkill?"

Ich habe geantwortet, ich weiß nichts darüber, ich habe das aus Agambens Buch genommen. Und ich sagen ihnen: In Italien oder sonst wo kennt niemand "Axolotl Roadkill". Also was zur Hölle! Ich kann es kaum fassen, dass mir jemand diesen Begriff weggenommen hat. Ich bin zuerst auf ihn gekommen! (lacht)

Track vier ist dann "Buntmetalldiebe". Ein Gleichnis auf eine stattfindende Dekonstruktion der klassischen Industriegesellschaft?

Bargeld: Ich sagte ja: Sie dürfen das alles gerne darin sehen, aber sie dürfen mir nicht unterstellen ...

Nein, nein, ich unterstelle ihnen nichts.

Bargeld: Nein, das sollten sie auch nicht. Mir ist die Idee für "Buntmetalldiebe" über die Musik gekommen. Ich habe sie gehört und dann habe ich einen von Google unterstützten Schreibprozess dazu gestartet, indem ich Zwischenfälle recherchiert habe, die damit zu tun haben. Im Grunde sind 80 Prozent der Dinge, die in dem Lied vorkommen, wirklich passiert, so wie der Zug, der ohne Gleise und Strom zwischen Senftenberg und Finsterwalde zum Stehen gekommen ist. Das ist alles wahr.

Dann hat dieser Song also eher etwas von Storytelling?

Bargeld: Es ist das. Im Gegensatz zu allen anderen Stücken auf dem Album, ist dieses nicht in einer Songstruktur geschrieben, sondern in einer kinematografischen. Es ist wie ein Action-Film, es wird immer schneller und schneller und schneller. Es ist eine Vorwärtsbewegung im Querformat, die Kamera bewegt sich weiter und die Schnitte werden auch immer schneller.

"Still Smiling" hat eine sehr düstere, aber eindrückliche Orchestrierung. Wie ist das entstanden Herr Teardo?

Teardo: Ich bin sehr an der Möglichkeit interessiert, Streichinstrumente wie Schlaginstrumente zu benutzen. Also es ist auch mit dem Bogen gespielt, aber auch mit anderen Sachen, die ich dagegen schlage. Ich kann eben einfach keine Streicher spielen. Ich kann nur meine Finger auf die Saiten legen und sie anschlagen, wenn ich den richtigen Punkt erwische. Ich habe schon viele Aufnahmen auf diese Weise gemacht.

Das bin meistens ich, der ein Cello oder eine Violine anschlägt. Auch dieses tack, tack, tack, das sind meine Finger, wie sie die Saiten runter gehen. Und dann fange ich an, mit dem Riff der Bariton-Gitarre zu interagieren. Das Lied ist ziemlich düster, auch als Ergebnis dieser Vorgehensweise.

Bargeld: Und ich habe das genommen und eine völlig abweichende Harmonie auf einer Hammond-Orgel darübergespielt.

Teardo: Was es geöffnet hat.

Bargeld: Ja, es verlässt die Grundstruktur der Harmonien in vier Schritten, denn die der Orgel ist in Runden mit acht Schritten gespielt, also wiederholt sie sich nur jedes zweite Mal. Aber das war alles schon vorher im Gange. Danach habe ich den Text dafür geschrieben: Es war der erste, den ich begonnen habe und der erste, der fertig war.

Es gibt darin ja diese Zeile: "Still smiling from my hypothetical soul". In Verbindung mit dieser düsteren Musik kam mir das ein bisschen wie angewandter Zynismus vor.

Bargeld: Also, das kann man durchaus sagen, ja. Insbesondere wenn sie sich das Ende davon anhören und hören wie "Still Smiling" sich immer mehr in sein Gegenteil verkehrt. Uneingeschränkt angewandter Zynismus, ja. Oder zumindest ist es gerechtfertigt, das so zu sagen.

Zum sechsten Stück, "Nocturnalie".

Bargeld: Das gibt es in zwei Versionen, das hier ist die deutsche.

"Nocturnalie" im Wortlaut ist der Titel eines liturgischen Gesangsbuches der römisch-katholischen Kirche ...

Bargeld: Ja? Das war mir nicht bekannt. "Nocturnalie" meint ein Nachtstück. Dieser Text ist schon zehn Jahre alt. Ich habe das also nicht für dieses Album geschrieben, aber ich habe ihn für eines der Stücke verwendet.

Das ist interessant, denn das Gesangsbuch, das ich meine, ist aus dem Jahre 2002, also auch ungefähr aus der gleichen Zeit.

Bargeld: Dann muss ich mich verbessern: Es ist fünfzehn Jahre alt. Es ist von 1997. Aber unter dem Titel "Nocturnalie" gibt es ja eine Sammlung von Klavierstücken: Die "Nocturnes" von Chopin ... aber das sind alles Nachtstücke und "Nocturnalie" ist der italienische Name dafür. Vielleicht verwende ich das Wort sowieso völlig falsch. Aber: Wen interessiert's!

Das siebte Lied "Alone With The Moon" ist die Cover-Version eines Songs der Tiger Lillies. Warum haben sie dieses Stück ausgewählt?

Teardo: Es war Blixas Idee, ich kannte das gar nicht. Aber es gab mir die Möglichkeit, Streicherarrangements zu schreiben. Gleichzeitig konnte ich auch mit Motiven aus Hollywood-Filmsoundtracks der Fünfziger Jahre spielen: Diese langgezogenen Streicherklänge, niiiu-niiiiiiuuu. So etwas würde ich in meinen eigenen Kompositionen nie einsetzen, aber die Musik von anderen zu bearbeiten oder zu interpretieren gibt dir die Freiheit, etwas ganz anders zu machen.

Bargeld: Für mich ist es normal, Cover-Songs zu machen. Ich habe bestimmte Lieder in meinem Kopf und die muss ich einfach loswerden. Stücke von anderen Leuten, die ich auf meine Art singen möchte. Ich wollte "Alone With The Moon" schon eine ganze Weile bearbeiten, aber ich hatte nie die Möglichkeit dazu. Ich wusste einfach nicht, in welchem Kontext ich das hätte tun können.

Jetzt wird es ein bisschen peinlich, denn ...

Bargeld: Denn der nächste Song ist?

Der nächste ist "What If ...", aber es ist peinlich für mich, denn hier in meinem Notizbuch ist unter diesem Songtitel nur eine leere, weiße Stelle zu finden. Ich habe keinen Gedanken dazu.

Bargeld: Okay, auch gut. Ich denke, das ist tatsächlich eines meiner liebsten Lieder auf der Platte. Ich mag es sehr.

Teardo: Es ist auch mein Lieblingslied auf dem Album. Meine Frau mag es auch sehr.

Bargeld: Ich liebe das Geigenspiel dort. Es ist ein wirklich schönes Stück Musik. Darüberhinaus würde ich nicht versuchen, es tiefer zu erklären.

Kein Problem, wir haben ja noch mehr. Das neunte ist "Konjunktiv II". Ihnen wird ja oft die Frage gestellt, ob sie überhaupt noch im Nachtleben aktiv sind. Sie antworten dann immer: "Nee, das ist jetzt vorbei, ich hab ja auch Familie."

Bargeld: Ja eben, ich steh ja jeden Morgen um sieben Uhr auf.

Und es gibt in diesem Lied ja die Zeile: "Ich haute mir die Nächte um die Ohren und legte mich irgendwann aufs Ohr. Sinnloses Gebrabbel, Menschen, die ich gar nicht kennen will!" Eine Absage an das Nachtleben?

Bargeld: Es ist mehr ein Rückblick. Es ist ja wie gesagt auch Konjunktiv II. Ich habe das in meiner Küche geschrieben, am gleichen Tag, an dem ich den Text zu "Come Up And See Me" verfasst habe. Meine Frau und meine Tochter waren nicht da. Das war der Punkt, an dem der Konjunktiv begann: Wäre ich allein, würde ich dieses und jenes machen. Wahrscheinlich würde ich zurückfallen in alte Gewohnheiten.

"Ein Leben lang nur dumme Fragen ..."

"Nur zur Erinnerung" ist der zehnte Titel. Sie begonnen dort mit der Aufzählung der Erdzeitalter.

Bargeld: Rückwärts! Ich zähle sie herunter, ich ende bei Archaikum. Das Haus der Kulturen der Welt spielt immer mit dem Begriff des "Anthropozän" als Bezeichnung für das Hier und Jetzt, also seit Entstehung des Homo Sapiens ungefähr. Das wäre eigentlich der erste, aber im klassischen Erdzeitalter gibt's den gar nicht. Ich zähle also von der Jetztzeit zurück zum Archaikum.

Also zurück "In die alte Ordnung, die Ordnung vor der Ordnung, die tobende warme Ordnung", wie es im Text heißt. Tobende Ordnung find ich ja schön ...

Bargeld: Ja, ist auch schön (lacht). Ich schreibe immer, während ich aufnehme. Ich schreibe auch außerhalb der Aufnahmen, aber die finale Gestalt eines Stückes entsteht normalerweise im Aufnahmeprozess. Hier hatte ich zunächst keine Ahnung, was ich singen sollte. Also habe ich den Computer aufgeklappt und alle Notizen durchgesehen, die ich mir in den vergangenen 20 Jahren genau an diesem Tag gemacht hatte.

Ich habe sie ausgedruckt und unter ihnen stach mir die Zeile "die tobende, warme Ordnung" ins Auge und diese Liste mit den verschiedenen Erdzeitaltern. Und Bingo! Man verbindet zwei Sachen miteinander, die vorher noch nicht kombiniert wurden und dann weiß man, in welche Richtung es geht.

Der elfte Titel ist "A Quiet Life". Sie erwähnten schon, dass dieses Stück für den gleichnamigen Film geschrieben wurde.

Teardo: Es ist aus dem Soundtrack, den ich für den Film "A Quiet Life" geschrieben habe. Am Ende des Films muss der Hauptcharakter weggehen und er baut sich sein Leben außerhalb Italiens auf, konkret in Deutschland, weil er vor der Mafia und früheren Straftaten Reißaus nehmen muss. In diesem Moment hat er sich gerade in einem normalen Leben eingerichtet und alles ist in Ordnung für ihn. Plötzlich stellt er fest, dass er schon wieder flüchten und diesen Ort hinter sich lassen muss. Ich denke, Blixas Worte passen sehr gut auf diese Situation.

Bargeld: Das ist ja kein Wunder. Du hast mir das Skript geschickt und ich habe etwas dazu getextet in Übereinstimmung zu dem, was dort passiert. Es sollte also passen.

Also hat der Text gar nichts mit Ihnen zu tun?

Bargeld: Es ist gesungen aus der Perspektive der Hauptperson in diesem Film, also nicht aus der Sicht meines ruhigen Lebens, das ich sowieso nicht als ruhiges Leben bezeichnen würde. Unglücklicherweise habe ich den Film selbst nie gesehen, sondern den Songtext auf Grundlage des Skripts geschrieben.

Wirklich?

Bargeld: Na ja, der Produzent hatte mir eine DVD mit dem Film auf italienisch geschickt. Ich spreche nicht so gut italienisch und es gab keine Untertitel. Ich hätte also dasitzen und das Skript lesen müssen, während ich gleichzeitig den Film schaue. Sie haben mir zwar das Skript übersetzt, aber keine DVD mit Untertiteln geschickt. Das Lied hat nichts mit mir zu tun. Ich meine, alles hat mit mir zu tun, wenn ich es geschrieben habe und singe. Aber es geht nicht um mich.

Teardo: Es ist ein interessanter Beitrag auf diesem Album, bei dem die Texte sonst alle sehr persönlich sind. Es ist zudem der erste Song, den wir gemeinsam geschrieben haben und deshalb auch einer der Songs, den wir am meisten mögen.

"Defenestrazioni" ist das letzte Lied der CD, übersetzt heißt es Fensterstürze. Dort gibt es am Ende Samples aus einem Interview mit Ihnen.

Bargeld: Richtig, es ist ein Interview auf englisch mit einem italienischen Akzent. In den Credits ist es ausgewiesen als "Italian accent voice". Das ist lustig: Das Album beginnt in Italienisch mit deutschem Akzent und endet in englischer Sprache, gesprochen mit italienischem Akzent.

Teardo: Das hat meine Frau gesprochen.

Warum haben Sie das Sample eines Interviews dort angehängt?

Bargeld: Es ist kein richtiges Interview, es ist ein Fake. Ich habe die Fragen und Antworten aufgeschrieben und aufgenommen. Es speist sich einfach aus einer lebenslangen Erfahrung, dumme Fragen gestellt zu bekommen und das sind ein paar Beispiele von dummen Fragen.

Teardo: Ein Katalog an blöden Fragen.

Bargeld: Genau. So wie die Frage: "Hat sich das nicht furchtbar angefühlt, von einer Mauer eingeschlossen gewesen zu sein?" Das ist die Standardfrage an jede Person, die in West-Berlin aufgewachsen ist.

Zu Berlin habe ich ein Zitat von Ihnen aus einem Interview mit der Zeit gefunden: "Man muss sich extrem anstrengen, nur um auf der Stelle zu stehen und sich zu behaupten", in Berlin, in diesen Tagen.

Bargeld: Ja, das kommt von woanders her. Was der Typ von der Zeit da unterschlagen hat, ist die Tatsache, dass ich das quasi ebenso als Zitat erzählt habe. Es stammt nämlich aus Lewis Carrolls Buch "Alice hinter den Spiegeln", zweites Kapitel: "Die Blumen müssen so unglaublich rennen, um am selben Platz zu bleiben." Das habe ich ihm auch gesagt, aber daraus gemacht hat er, man muss sich anstrengen, um an derselben Stelle zu bleiben.

Es ging in der Passage um die Frage, wie sich Berlin verändert hat in den vergangenen Jahren.

Bargeld: Das Zeit-Interview war wirklich sehr lustig. Ich weiß gar nicht mehr, wann genau das war. Aber einige Jahre später hat mich der Typ erneut kontaktiert und mir erklärt, dass er vor Jahren dieses Interview mit mir geführt hätte, es aber nie gedruckt wurde, und ob ich ihm nicht noch ein paar zusätzliche Fragen beantworten könnte, um es wieder aktuell aussehen zu lassen.

80 Prozent dieses Interviews sind tatsächlich mehrere Jahre alt, ungefähr vom Beginn des neuen Jahrtausends. Er hat dann noch ein paar mehr Fragen gestellt, zum Beispiel etwas zu meiner Autobiografie und solche Sachen und dann wurde es veröffentlicht. Der Hauptteil des Interviews ist aber uralt. So uralt, dass ich gar nicht in Deutschland gewohnt habe, als das Interview geführt wurde. Und dann irgendwas mit Berlin daraus machen? Aber gut, Sie wollten von mir etwas über Berlin hören. Wie könnte denn die Frage dazu lauten?

Hm, ich meine, Sie leben hier, ich lebe hier ...

Bargeld: Aber Teho lebt nicht hier. Was sagst Du zu Berlin?

Teardo: Ich war sehr oft hier zu Besuch und die Stadt hat sich sehr verändert über die Jahre. Ich weiß nicht genau, welche Gesichter der Stadt ich mehr mag, aber das ist interessant. Ein weiterer Punkt ist, dass jeder hierher kommen und hier leben möchte. Gestern habe ich mich mit drei Bekannten getroffen, die aus den unterschiedlichsten Ecken Italiens kommen. Ich habe sie hier in Berlin getroffen, denn alle drei leben hier und alle drei wollen hier Musiker sein. Diese Stadt ist so offen.

Eine dieser blöden Fragen vielleicht, aber: Ist es denn aufregend für Ihre Bekannten hier?

Teardo: Sie schienen nicht besonders begeistert zu sein. (lacht) Also, es wirkt hier schon wie eine Goldenes Zeitalter für alles Mögliche. Aber wenn man dann hier ist und sich seinen Gedanken und Ideen annähert, die man im Kopf hat, und plötzlich merkt, dass da gar nichts ist, dann ist es schon nicht mehr ganz so golden.

Bargeld: Viele, viele Leute kommen her und versuchen Musiker oder Künstler zu werden oder den Roman ihres Lebens zu schreiben. Und dann gehen sie auf Partys und zwei Jahre später geben sie es auf und fangen wieder dort an, von wo sie hergekommen sind.

Teardo: Es hat etwas von einem Mangel an Verantwortung. Als ob du jegliche Verantwortung auf dem Weg abgibst an einen Ort.

Ihr gemeinsames Album ist diesmal über ein Label veröffentlicht worden.

Teardo: Es ist mein eigenes Label.

In der Vergangenheit haben Sie dafür einen anderen Weg gewählt und ihre Platten auch über Crowdfunding finanziert. Wie war für Sie diese Erfahrung und warum haben Sie das jetzt nicht gemacht?

Bargeld: Mit den Neubauten, ja. Wir haben Crowdfunding erfunden. Es war eine großartige Erfahrung und es hat funktioniert. Was wir jetzt gemacht haben, ist eine persönliche Sache und eine Eins-Plus-Eins-Kooperation. Es wäre definitiv möglich gewesen, wieder so etwas zu machen. Aber beim Crowdfunding geht es ja vor allem darum, Geld zu akquirieren. Wir haben aber kein Geld gebraucht, um diese Platte zu machen - oder zumindest kein Geld, das wir nicht hatten. Es war nicht so kostspielig, wie die Produktion eines Neubauten-Albums.

Wenn eine neue Band auftaucht, die sich noch keinen Namen gemacht hat, ist dann Crowdfunding ein guter, praktikabler Weg?

Bargeld: Als wir 2001 damit begonnen haben, wurde uns schon die gleiche Frage gestellt: Was sei denn mit einer Band, die nicht so bekannt ist? Wie sollen die das machen? Jetzt gibt es diese Crowdfunding-Plattformen, wo man sein Projekt vorantreiben kann, Demos und CDs zum Verkauf anbieten und schauen kann, ob man damit genug zusammenbekommt. Was wir damals gemacht und entwickelt haben, war tatsächlich so erfolgreich, dass die Leute jetzt auch Filme auf diese Weise finanzieren. "Iron Sky" zum Beispiel, der Film über eine geheime Mondbasis der Nazis aus dem vergangenen Jahr, ist mithilfe von Crowdfunding entstanden. Sehr erstaunlich.

Oder Amanda Palmer, die eine der Unterstützerinnen von neubauten.org gewesen ist: Sie hat danach dasselbe Modell aufgezogen und hat damit so viel Geld beschafft, dass sie das Album machen konnte, dazu noch eine eindrucksvolle Marketing-Kampagne und eine Tour mit den Musikern, die sie dabei haben wollte. Also, sehr gut!

Ich habe Statistiken darüber gelesen, ob und wie die Verwendung bestimmter Schlüsselwörter einen Einfluss auf den zu erwartenden Erfolg hat. Es kam heraus, dass es dort direkte Zusammenhänge gibt und schließlich wurde sogar eine Fibel herausgegeben nach dem Motto: "So muss dein Werk sein, damit du den Massengeschmack triffst und beim Crowdfunding erfolgreich bist!" Also geht es doch auch hier wieder in eine gewisse Konformität über.

Bargeld: Oh ja, ganz sicher. Daran gibt es keinen Zweifel. Wir sind jetzt historisch gesehen am Punkt des Zusammenbruchs der klassischen Musikindustrie angelangt. Und da war es sehr, sehr wertvoll, damit zu beginnen. Das heißt nicht, dass Crowdfunding perfekt ist, aber an diesem Wendepunkt war es das Beste, was wir machen konnten.

Ich denke nicht, dass die Neubauten diesen Weg bevorzugen werden, wenn sie ein neues Album machen, was durchaus möglich ist. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass es verdammt viel Arbeit war. Wissen Sie, warum so viele Bands einen Vertrag mit einem Label haben wollen?

Vielleicht damit ihnen jemand gewisse Arbeiten abnimmt und wegen der relativen Sicherheit, die einem ein Label gibt?

Bargeld: Damit sie jemandem die Schuld in die Schuhe schieben können.

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