25. April 2016

"Ich bin schlimmer als Schostakowitsch"

Interview geführt von

"Wir trinken gerade Feierabendbier, auch eins?". Blixa Bargeld, Ikone der Berliner Musikszene, grüßt in einem fürs Interview gemietete Appartement in Berlin-Mitte. Ein langer Interview-Tag liegt hinter Bargeld und seinem Partner in crime, dem italienischen Komponisten, Teho Teardo. Trotzdem ist man bester Laune, denn Anlass des Interviews ist "Nerissimo", das neue Album der beiden Ausnahmemusiker.

Weißer Tisch, IPA Biere, Bio-Kartoffelchips, zwei Flaschen Wasser – einmal mit, einmal ohne Kohlensäure –, vier Gläser. Typisches Interview-Setup. Blixa Bargeld wie gewohnt im Sakko; Teho Teardo ebenfalls. Vorsichtig versucht man das Gespräch vor dem eigentlichen Gespräch aufzubauen. "Hagelt es schon wieder draußen?", "Sie müssen sicherlich müde sein, nach so einem langen Interviewtag". Banaler Smalltalk. Doch Bargeld und Teardo sind zu sehr mit Späßen und Anekdoten beschäftigt um sich auf Smalltalk einzulassen. Zeitweise scheint es, als hätten die beiden vergessen, wieso sie, wieso wir, eigentlich hier sind. Als ich das neue, zweite Album der beiden anspreche, wird aus dem Monolog jedoch blitzartig ein Dialog:

Herr Bargeld, Herr Teardo, herzlichen Glückwunsch zum zweiten Album ...

Bargeld: danke, danke. Ich fühle mich sehr erleichtert und zufrieden, dass es vorbei ist. Normalerweise arbeite ich ja an Alben bis ich glücklich bin, hier aber war ich glücklich als es endlich im Kasten war.

Was war diesmal anders?

Bargeld: Ich habe wie immer sehr viel mit meinem Unterbewusstsein gerungen und war ständig am Schreiben. Ich würde ja behaupten, dass ich vor und nach dem Schlaf nichts anderes gemacht habe als zu schreiben, aber zwischen dem Schreiben habe ich nicht geschlafen, also habe ich eigentlich nur geschrieben. Das waren zweieinhalb Monate Schwerstarbeit, bis ich alle Texte fertig hatte. Mir fiel eine Last von den Schultern.

Sie empfanden es als eine Befreiung?

Bargeld: Es fühlte sich an, als würde ich von einer schweren Erkrankung genesen. Es erinnerte mich an etwas, was mein Vater zu meiner Großmutter einst meinte. Er hatte Nierensteine und große Schmerzen. Meine Großmutter versuchte ihn zu besänftigen und verglich das Ausscheiden der Nierensteine mit der Geburt eines Kindes. Mein Vater schrie damals nur lauthals zurück, dass man bei der Geburt wenigstens wüsste, dass etwas Gutes dabei rauskommt. So war es auch hier.

Bargeld imitiert seinen Vater mit vollster Leidenschaft und wiederholt die Szene mehrfach. Wie oft er sich wohl an diese Szene schon erinnert hat, aber welche Freude ihm die Erinnerung immer noch beschert. Man nimmt ihm ab, dass die Arbeit an "Nerissimo" ihm alles abverlangt hat. Man sieht ihm die Erleichterung an, man freut sich mit ihm.

Sie haben das Album "Nerissimo" getauft, was so viel heißt, wie das schwärzeste Schwarz. Besonders düster klingt das Album aber nicht.

Bargeld: Soll es auch gar nicht. Der Bezug auf das Dunkle ist nicht inhaltlich gemeint. Anfangs sollte das Album Christian è Mauro [bürgerliche Vornamen von Bargeld und Teardo] heißen. Passte später aber nicht wirklich zum Album.

Christian und Mauro klingt etwas nach deutschem Schlager-Duo.

Bargeld: Stimmt!

Teardo: Es könnte auch ein italienisches Pianobar-Duo sein!

Bargeld: Das sollten wir unbedingt versuchen.

Teardo: Du spielst das Piano und ich singe.

Bargeld: Nein, du gibst die Noten einfach an einen dieser Pianobar-Pianisten und der erledigt die ganze Arbeit.

"Ich mache die Regeln, dann breche ich sie."

Die Texte des Albums sind sehr dramaturgisch und erzählen einzelne Kurzgeschichten ...

Bargeld: ... Es hat etwas Filmisches, das ist wahr.

Was Ihnen, Herr Teardo, als Filmkomponist natürlich sehr liegt.

Teardo: Ja, aber es geht weniger um meine Erfahrung als um unsere Arbeitsweise. Wie meinen Sie das?

Bargeld: Wenn wir uns über Musik unterhalten, dann benutzen wir eine sehr bildliche Sprache. Wir sprechen von Nahaufnahmen oder von Weitwinkeleinstellungen. Wir visualisieren was wir hören. Ich höre Musik und ich habe automatisch Bilder vor Augen.
Ist diese Visualisierung hilfreich, um deutsche Texte zu vertonen, die man nicht versteht, Herr Teardo?

Bargeld: Ich schreibe kein Wort, bis die Musik fertig ist.

Teardo: Ich schreibe zuerst die Musik und Blixa verleiht ihr dann Stimme und Sprache.

Bargeld: Ich verändere die Musik nur minimal, aber es geht mir vor allem darum eine semantische Struktur in der Musik zu erkennen, herauszufinden, um was es in diesem Stück eigentlich geht. Erst dann, kann ich anfangen zu schreiben. Manchmal hilft mir der Zufall dabei.

Inwiefern?

Bargeld: Bei "Nerissimo", dem Titelstück des Albums, habe ich einfach ein willkürliches Cello-Sample in die Mitte des Liedes platziert. Das half mir dabei, das Stück besser zu verstehen und einzuteilen.

Wie hat man sich diese Willkür vorzustellen?

Bargeld: Teho schickte mir Demoversionen der Songs zu, die er in Rom aufgenommen hatte. Ich habe alle Songs dann in einer Datei zusammengefügt, diese stummgeschaltet und angefangen willkürlich Samples auf die Tonspur zu legen: Meine Stimme, Instrumentalklänge, Internetradio – alles mögliche. So kam das Cello in "Nerissimo" unter. Komplettes Zufallsprinzip.

Das ist erstaunlich. Beim Hören des Albums, dachte ich mir, dass für jemanden wie Blixa Bargeld, der festgelegte Strukturen und Ordnung ablehnt...

Bargeld: ... da irren Sie sich gewaltig, ich liebe Strukturen. Ich strukturiere mit Leidenschaft. Jeder, der mit mir arbeitet, hasst mich für meine Struktur-Vernarrtheit.

Bargeld richtet sich auf, seine Stimme erhebt sich, sein Zeigefinger schwankt von links nach rechts. Es scheint, als ob jede Faser seines Körpers sich gegen die Behauptung wehren möchte, dass er Strukturen ablehnt. Dann fällt einem auf, wie kontrollierend er die Interviewfragen stellvertretend für beide beantwortet und man kauft es ihm ab.

Aber Sie haben doch stets betont, dass Sie Regeln und Strukturen durchbrechen wollen?

Bargeld: Ich mache die Regeln, dann breche ich sie. Aber ich bin ein Verfechter von Strukturen – durch und durch. In der Sowjetunion hätte man mich nach Sibirien ins Arbeitslager verfrachtet. Ich bin schlimmer als Schostakowitsch.

Aber wie passt dieses Zufallsprinzip der Samples denn zu diesem Hang zur Struktur?

Bargeld: Der Zufall ist da, um das eigene Unterbewusstsein zu untergraben. Man muss die eigenen Sichtweisen und Gewohnheiten auch mal in Frage stellen. Viele der Samples, die ich zufällig platziert habe, sind später tatsächlich auf dem Album gelandet. Bei den meisten, wären wir niemals auf die Idee gekommen, es so zu arrangieren. Am Anfang von "Animelle", hört man ein Cembalo für eine Sekunde spielen. Denken Sie wirklich, wir hätten eigens dafür einen Cembalisten engagiert? Ein Song, der mein Interesse besonders geweckt hat ist "DHX2" ...

Bargeld: ... da sind Sie nicht allein.

Ich habe versucht, den Namen zu googlen ...

Bargeld: ... und sind auf eine Dämpferfeder für Fahrräder gestoßen. Wir haben ordentlich an dem Teil verdient (lacht). Nächstes Mal, geben wir einfach all unseren Songs kryptische Namen von Start-up Firmen und lassen uns dann von denen auszahlen, wenn die Leute anfangen den Namen über Google zu suchen. Deliveroo wäre doch ein guter Titel gewesen, oder?

Zurück zum Lied: Was ist die Story dahinter?

Bargeld: DHX2 ist eine Aneinanderreihung von Buchstaben und Zahlen. Das Lied ist zweigeteilt und der zweite Teil ist sehr stark durch Holzbläser geprägt. Es erinnerte mich sehr an Bernard Hermanns Soundtrack zu "Taxi Driver". Im Lied beschreibe ich den Bewegungsablauf einer gewaltigen Maschine. Daher auch die wiederholte Aufzählung der Bewegungen: "First movement", "second movement" und so weiter. Es geht im Prinzip um maschinelle Abläufe in einem Krankenhaus. Am Ende des Liedes kann man hören, wie die Krankenschwestern kommen.

Ich glaubte zunächst, es würde um einen sterbenden Mann gehen.

Bargeld: Es geht immer nur um mich und ich bin weit davon entfernt, ein sterbender Mann zu sein. Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten.

Ich bin ganz Ohr

Bargeld: Anfangs war das gesamte Lied auf Deutsch. Auch die Aufzählung der verschiedenen Bewegungen. Anstelle von "first movement" sang ich "erste Fahrt", "zweite Fahrt" und so weiter. Teho fragte mich dann irgendwann, was das Wort "Fahrt" eigentlich bedeutet. Ich begriff, dass das Wort für jemanden, der des Deutschen nicht mächtig ist, aber Englisch spricht, vielleicht etwas zu sehr nach körperlichen Gasen klingt – keine schöne Assoziation (beide lachen schallend).

Zumindest sorgte es für gute Stimmung im Studio.

Bargeld: Ja, wir amüsieren uns heute noch darüber. Vorhin fragte uns jemand im Interview, ob wir eigentlich traurige Menschen seien. Ich glaube, dass sich die Frage spätestens nach der Anekdote erübrigt.

Teardo: Man hat uns aber auch gefragt, ob wir an Satan glauben (lacht).

"Sprache ist ein Virus"

Sie, Herr Bargeld, haben über Jahrzehnte dutzende Songs geschrieben. Kommt es noch vor, dass Sie über etwas völlig Neues schreiben?

Bargeld: Ja, kommt schon vor, das Gegenteil aber auch. Ich sitze manchmal an einem Song und frage mich, ob ich genau diese Textstelle nicht schon einmal verwendet habe. Ich muss dann nachschauen, ob es das nicht schon in einem anderen Song gibt. Die Gedanken wachsen irgendwann über mein Gedächtnis hinweg. Deshalb bin ich froh, dass ich meine Notizen im Rechner habe und mit ein paar Klicks alles nachschauen kann.

Erstaunen Sie alte Notizen ab und zu?

Bargeld: Sogar sehr oft. Was mich am meisten verwundert ist, was ich alles vergesse.

In "Ulgae", erzählen Sie von einem Drama, welches in einer Petrischale stattfindet und in dem Bakterien die Protagonisten spielen. Was inspirierte Sie dazu?

Bargeld: Naja, eigentlich sollte die Geschichte mir nur dazu dienen, die Musik besser zu verstehen und meine Fantasie anzukurbeln, doch dann wurde daraus die eigentliche Geschichte. Gerade schreibe ich an der Rache von Ulgae, der Protagonistin. Das meistbietende Opernhaus bekommt den Zuschlag (lacht). Alle Schauspieler müssen sich als Bakterien verkleiden und die Bühne wird eine große Petrischale sein. Man wird mich verfluchen.

Auf dem Album singen Sie in drei Sprachen ...

Bargeld: ... vier, wenn man die Fantasiesprache in "Ulgae" dazuzählt.

Sie haben immer schon mit verschiedenen Sprachen experimentiert. Was interessiert Sie daran?

Bargeld: 1992 trat ein kanadisches Tanztheater an mich und die Neubauten heran und fragte, ob wir Musik für sie komponieren könnten. Ich fragte in welcher Sprache sie es wünschen und man antwortete nur vorzugsweise nicht auf Deutsch. Also habe ich auf Latein, Französisch und Englisch geschrieben. Das war natürlich irgendwo Provokation, aber es beschäftigt mich seitdem. Auf dem Neubauten-Album "Tabula Rasa" enthält jeder Song mehr als eine Sprache.

Was bedeutet Ihnen Sprache?

Bargeld:. Wie William S. Burroughs einst schrieb: "Sprache ist ein Virus, nicht von dieser Welt". Für mich ist Sprache eine Verlängerung des Körpers. Sprache funktioniert über Metaphern und der Körper ist die ultimative Metapher. Auf dem letzten Album sang ich "Who am I in another language?" [dt: Wer bin ich in einer anderen Sprache?]. Ist mein Körper eigentlich der gleiche, wenn ich eine andere Sprache spreche? Ich habe noch keine Antwort darauf gefunden.

Wie entscheiden Sie, welche Sprache zu welchem Song passt?

Bargeld: Kommt meistens sehr spontan.

Teardo: Ich denke es geht nicht um Klang, sondern darum, wie man sich am besten ausdrücken kann und welche Sprache einem den Zugang zu einem Lied erleichtert.

Bargeld: Bei diesem Album habe ich für die italienischen Lieder mit einer Kunsthistoriken der Humboldt Universität zusammengearbeitet, die mir bei der Aussprache half. Und mit Teho im Studio natürlich. Wenn er gerade nicht da war, hat mir die Putzfrau weitergeholfen.

Für das Albumcover, haben Sie das berühmte Gemälde "Die Gesandten" von Hans Holbeim dem Jüngeren nachgestellt. Wie kam es dazu?

Bargeld: Wir wollten ein gemäldeartiges Bild von uns beiden und fingen an nach Inspiration zu suchen, als ich an dieses Gemälde denken musste.

Teardo: Als Blixa mir davon erzählte, war ich sofort begeistert.

Als wir auf das Artwork des Albums zu sprechen kommen, greift Teardo zum Laptop und spielt das Video zur ersten Single „The Beast“ ab. Im Video verharren die beiden über vier Minuten fast regungslos wie auf dem Albumcover. Teardo kommentiert, dass Bargeld anfangs glaubte, dass das Video technisch bearbeitet wurde, weil er nicht glauben konnte, wie authentisch er stillstehen kann. Nachdem das Video vorbei ist, kramt Teardo noch ein Kunstbuch mit italienischen Renaissance-Kunstwerken aus seiner Tasche und die beiden Musiker verfallen wieder in ihren eigenen Dialog.

Welche Bedeutung hat das Gemälde für Sie?

Teardo: Es wurde sehr viel über das Bild gerätselt, über die gezeigten Personen und Gegenstände und die Zusammenhänge. Es gibt zahlreiche Interpretationen und doch bleibt es weitgehend ein Mysterium.

Bargeld: Holbein hat die Gabe sich auf subtile Art über Sachen lustig zu machen oder sie zu kritisieren. Haben Sie sich die obere linke Ecke des Gemäldes einmal angesehen?

Nicht bewusst.

Bargeld: Hinter dem grünen Vorhang kommt ein Kruzifix zum Vorschein. Man sieht es nicht auf den ersten Blick. Auf unserem Albumcover kommt hinter dem Vorhang nur schwarze Leere zum Vorschein. Das war unser subtiler Kommentar.

Mit Blixa Bargeld und Teho Teardo sprach Max Tholl

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