laut.de-Kritik
Den Populisten der E-Gitarre gehen die Ideen aus.
Review von Philipp KauseDie Struktur des idealtypischen Bon Jovi-Songs ist in den jeweiligen Ausführungen Uptempo, gehobenes Midtempo und Ballade sattsam bekannt und auch auf dem neuen Album "Forever" allgegenwärtig. Die Kategorie Jovi uptempo kennen wir so: Knappes Intro mit funktionalem Gitarrenriff, dann zwei Takte Drums, die den Beat zum Headbangen vorgeben. Es folgt ein kurzes Wah-Wah-Geröhre mit Talkbox-Klangfarbe. Eingeführt wurde dieses Erkennungsmerkmal mit dem Hit "It's My Life" auf "Crush" (2000), galt seinerzeit als innovativ und hält sich seither wacker als Markenkern.
"Living Proof" spult diesen Ablauf wieder mal durch. "The rock song you wanted - you got it", kommentiert der Bandleader mit charmantem Lächeln. Die erste Strophe in zwei Akkorden fügt sich in ein Call-and-Response-Muster: Das Wah-Wah der Gitarre kontert die einfallslosen Vocals. Nach wenig Textmenge landet man im Refrain, der sich kaum einprägt, wie die Band das allgemein nur mehr selten schafft.
Brecher wie "You Give Love A Bad Name", "Keep The Faith" oder "Wanted Dead Or Alive" gelingen der Band schon lange nicht mehr. Was diese Hits auszeichnete, war die Katharsis, die sich in den Stücken aufbaute und entlud. Der hymnische Classic Rocker "Waves" liefert diese Qualität auf dem neuen Album wieder erstklassig, und er tut Not. Er handelt von Erinnerungen, die einen daran hindern, in die Zukunft zu gehen. Für den Jovi-Sound wäre der Songtext also ein hilfreicher Ratgeber, zumal die Ideen ausdünnen und man noch von Erfindungen aus den 80ern und 90ern zehrt. Der letzte Welthit ist mit "Because We Can" elf Jahre her. Das war der Song mit dem Video im Boxring und schon damals auf "What About Now" altbacken.
Das nächste Rohmodell eines Jovi-Standards ist der heavy durchgetrommelte Tune mit Gitarren-Klangwand in gehobenem Midtempo und mit Jon in bellender und zerknirschter Tonlage, als werde er zum knurrigen Wachhund, der Zähne zeigt, wo andere nur die Kiefer auseinander reißen: In "The People's House" mahnt der US-Songwriter, die pluralistische Gesellschaft zu ehren. Die Aussage: Wir sollten einander mehr zuhören, bei allen Differenzen voneinander lernen. 2022 verfasst, spielt der Track auch auf den Zustand der Demokratie an. Die Lyrics lassen sich wie ein Anti-Song zum Sturm aufs Kapitol verstehen; subtil, unaufgeregt, klinkt sich das Lied in den Wahlkampf ein. Jon Bon Jovi und Kandidat Donald Trump tragen seit Jahren einen öffentlichen Zwist aus.
Der Streit überrascht auf den ersten Blick: Die New Jerseyianer wenden sich mit holzschnittartig simplen Nummern seit 40 Jahren an ein Arena- und Stadionpublikum im Mainstream, das nicht unbedingt hinterfragt, sondern gerne Eingängiges zum Mitgrölen annimmt. So sind Jon und seine Jungs irgendwie die Populisten des Langhaar-Rocks. Die neue LP macht da im Prinzip keine Ausnahme. Stimmviehfänger Donald verfährt kaum anders, nur dass seine Tweets noch kürzer als ein Bon Jovi-Refrain sind.
Doch zum Beispiel wie vehement Trump den menschlich mit verursachten Klimawandel abstreitet, regt Jon auf. Die Angst vor Antiamerikanismus wie in den George W.-Jahren mag tief sitzen, "2020" war aber erheblich tagespolitisch orientierter und expliziter.
In der Kategorie 'guter Unterwegs-Begleiter' hat "Seeds" einiges zu bieten, ein üppiges streicherverschmiertes Midtempo-Stück mit guter Dramaturgie. Am Ende ereignet sich da ein kleiner Nachklapp, und der Track hat durchaus eine interessante Struktur jenseits der üblichen BJ-Strickmuster. Textlich ist "Seeds" als Porträt der Zerrissenheit und Spaltung einer Gesellschaft lesbar, aber auch als Kommentar zu tabuisierter Einsamkeit. Andererseits schwächelt Jon am Mikro, lässt seine poetisch gut gemachten, universell interpretierbaren Zeilen allzu routiniert vom Stapel. Er nölt sie herunter, statt mit der Welt stolz ein neues Songjuwel-Baby zu teilen. Schade und seltsam. Womöglich ging nach einer Stimmbänder-OP nicht mehr.
Dabei ist der Track laut Jon selbst sein "wahrscheinliches Lieblingslied auf der Platte". Der 62-Jährige schrieb das schöne Stück mit Blick auf die Anonymität in Großstädten hinter den mimischen Fassaden vorbei eilender Leute. "Ich fand das eine interessante Erzählperspektive, aus dem Fenster meines Apartments in New York City auf Parkbänke zu schauen."
Eine weitere typische Form von Jovi-Material war immer und bleibt die Schmacht-Ballade mit dem Frauenversteher, dessen Stimme ins Verheulte übergeht, während die Rhythmik bei aller intimen Seelenschau etwas Vibendes beibehält. "Kiss The Bride" ist ein Musterbeispiel für den so gestrickten Prototyp der Bon Jovi-Softrock-Edition und handelt von der bevorstehenden Hochzeit seiner Tochter Stephanie.
Dass ein braunäugiges Mädchen Jon anhimmelt und die Freitagnacht mit ihm durchfeiert, ist so flach wie der vorhersehbare Schrammel-College-Pop "We Made It Look Easy" über die ersten Jahre der Band-Geschichte. In "Walls Of Jericho" behauptet der Mädchenschwarm "this is a song for every-o-o-one", doch mir taugt das Lied zum Beispiel gar nicht, womit die Hook widerlegt wäre. Abgegriffene Metaphern wie "walls came tumbling down", die man schon oft besser gehört hat, treffen auf fantasielosen Modern Rock, und auch der Chorus mit der Weisheit "na na na na na" überzeugt nicht. Dabei soll auch dieser Song vor der Spaltung der Gesellschaft warnen. Die Talsohle des Albums wird beim langweiligen Closer "Hollow Man" durchquert.
Abweichend vom ganzen Routine-Bombardement überrascht die zarte bis harte Liebeserklärung an "My First Guitar". Hier schöpft die Band ihre ganze stilistische Bandbreite von gefühlvollen Keyboard-Tupfern bis zum saftig-feurigen Solo in Guns'n'Roses-Manier aus. Jon singt anmutig mit dem Ray Davies-Näseltrick wie ein Schuljunge, und es geht ja auch um seine Teenie-Jahre als Kiss-Fan.
"I Wrote You A Song", verfasst in Unterwäsche nachts auf dem Fußboden kauernd, zählt ebenfalls zu den stärkeren Stücken. Gleichwohl es also ein paar glanzvolle Höhepunkte gibt, hätten die Rock-Dinos mehr Potenzial zum Ausschöpfen gehabt. "Forever" geht gerade noch so als okayes Album durch und ist ein Nice-to-Have mit viel Leerlauf.
9 Kommentare mit 10 Antworten
Aaaaaaaah... JETZT verstehe ich...! Das POP in POPulist ist, weil Bon Jovi eher so POP machen, und Rock nicht so sehr. Und POP kommt von POPulär, wie schon Fanta 4 rausgefunden haben. Und POPulist kommt dann bestimmt auch von POPulär. Da schließt sich der Kreis nämlich!!!
Vom "Stimmvieh" zu sprechen, während man gleichzeitig die Gefährdung der Demokratie beklagt und Populisten Populismus vorwirt, ist schon ein starkes Stück.
Erinnert an Bosettis "Blinddarm der Gesellschaft"-Maximal-Entgleisung.
Lö~
Oh, schon passiert.
Das könnte man auch über deinen Beitrag sagen ...
Er meinte „Lösch dich“ und wollte gleichzeitig einen dummen Scherz machen, der die Ähnlichkeit deines Nutzernamens zu einem gelöschten referenziert.
Das (den dummen Scherz) habe ich auch so verstanden. Mein dummer Scherz wiederum sollte auf die Ähnlichkeit seines Beitrags mit einem quasi gelöschten referenzieren
Scheinbar scheint die Musik Bon Jovis 2024 auch nicht mehr allzu relevant zu sein, wenn man die Rezension und die Kommentare liest.
Das hat der Autor ja gut herausgearbeitet: Ewige Wiederkehr des Selben.
Nun ja, aber den Spruch mit dem "Stimmvieh" finde ich dennoch arg daneben. Zumindest so, wie er da steht.
Man könnte sagen, dass Jon Bovi so etwas wie der Blinddarm der Rockmusik sei.
Richtig freshe Rockmusik! Ungehört 1/5!
Rock? Ist doch schon seit 15+ Jahren Schlager-Country
Also der Text klingt deutlich nach 3 Sternen. Also ich finde das Album deutlich besser als die letzten drei!
Where we once were divided, now we stand united. We stand as one, undivided. Bon Jovi forever!
Zielgruppe des Albums? - Bon Jovis Geldbeutel!