laut.de-Kritik

Die Geschichte hinter dem Album.

Review von

"Auf 'Darkness On The Edge Of Town' spürt man viel von der Isolation. Bei 'The River' versuchte ich, meine Charaktere zurückzubewegen, Richtung Mainstream." Für Bruce Springsteen stellt "The River" einen Wendepunkt in seinem musikalischen Schaffen dar.

Setzte sich der Boss in der Vergangenheit vorrangig aus einer persönlichen Perspektive mit der amerikanischen Gesellschaft und dem Grabenkampf zwischen Arm und Reich auseinander, fügt er seinen Songs nun eine bis dato unbekannte narrative Komponente hinzu. In der Phase rund um die Entstehung des Doppelalbums liegt es Springsteen vor allem am Herzen, kleine wie große Geschichten zu erzählen, die sich innerhalb eines Dorfes oder einer Vorstadt so zugetragen haben könnten. Zu dieser Zeit hört er viel klassischen Country von Roy Acuff bis Johnny Cash, "Kleinstadt- und ländliche Musik", wie er sie bezeichnet. Ihm geht es um Authentizität, er will Figuren erschaffen, die genügend Raum zur Identifikation bieten.

Erlangte er schon vor jenem Doppelalbum den Ruf des 'working class hero', indem er sich als einer von ihnen präsentierte, etabliert er sich nun vollends als Sprachrohr der arbeitenden Klasse. "Die größte Veränderung bei 'The River' war, dass ich begann, erzählend zu schreiben und mich in einen Charakter hineinzuversetzen, der eine besondere Geschichte hat. Ich sang mit dieser Stimme des Charakters, und das war nicht unbedingt ich. Ein Teil war ich, ein Teil jemand anderes. Und so war 'The River' natürlich der Maßstab für mein gesamtes späteres Schreiben, wo man einfach in einen Charakter schlüpft und versucht, seine Zuhörer auch dazu zu bringen."

Das Box-Set "The Ties That Bind" haucht dieser Phase nun eindrucksvoll neues Leben ein und bringt seine Beweggründe der Öffentlichkeit in aller Kompaktheit nahe. Neben "The River" vereint es zusätzlich noch die Outtakes, für die auf der Doppel-LP nicht genügend Platz war, "The Ties That Bind", das Album, dessen Veröffentlichung der Boss im letzten Moment zurückzog, da er das Resultat für nicht gut genug befand, sowie ein Live-Auftritt und ein Kurzfilm, in dem Bruce ein umfangreiches Interview zu dieser Zeit liefert, das erhellende Einsichten in seine Arbeitsmethoden gewährt.

So erfahren wir zum Beispiel, dass Springsteen eigentlich bis zum Schluss keine konkrete Vorstellung davon hatte, welche Songs später auf dem Album landen sollten: "Ich denke, am härtesten habe ich an ein paar der Sachen gearbeitet, die später Outtakes wurden. Aber das wusste man ja nicht." Berichtenswert erscheint auch der Umstand, dass der große kommerzielle Hit des Albums, "Hungry Heart", eigentlich für die Ramones bestimmt war.

Aufgrund der großen Zahl an Liedern wiederholen sich bestimmte Themen schon mal. Häufig besingt Springsteen die Schicksale junger Rebellen, die der Angebeteten hinterher jagen, einer frischen, zerbrechlichen Liebe oder naive heranwachsende Frauen, die sich abseits ihres wohlbehüteten Elternhauses im wahren Leben erst zurechtfinden müssen. Doch den geduldigen Zuhörer entschädigt eine Fülle weiterer toller Geschichten. Springsteen gibt zu, dass auch er nicht mehr recht weiß, warum welcher Song Eingang in "The River" fand und andere fallen gelassen wurden. In Anbetracht der Vielzahl an albumtauglichem Material erscheint die Aussage mehr als nachvollziehbar.

Songs wie "From Small Things (Big Things One Day Come)" legen Zeugnis seiner erzählerischen Qualitäten ab. In wenigen Worten spinnt er eine epische Geschichte um ein Mädchen, das aus ihren beengten Lebensverhältnissen entflieht und schlussendlich im Gefängnis ausharrt, während ihr Ehemann mit den Kindern auf ihre Freilassung wartet. Das atemlose "Roulette" gehört auch zu jener Sorte Songs, die viel zu lange unter Verschluss gehalten wurden. Der Protagonist, ein "normal guy", bangt um seine Existenz und die seiner Familie, weil er sich ein paar Fehltritte leistet, die ihn ins Fadenkreuz zwielichtiger Gestalten bringt. Warum und wer genau ihn verfolgt, lässt der Boss glücklicherweise offen. Es obliegt den Zuhörer, die Geschichte zu vollenden.

"Mr. Outside" überrascht mit souligen Anleihen, die eher an Sam Cooke als an den Boss erinnern. In seiner reduzierten Instrumentierung und seinem rohen, unfertigen Sound sticht der Song aus der Masse heraus, ohne deplatziert zu wirken. Für Gänsehaut sorgt "Stray Bullet", das eine dramatische Geschichte um ein junges Paar erzählt, das jäh aus seinem Glück gerissen wird.

Einen weiteren Kaufgrund bietet mit Sicherheit die Live-DVD, auf der der Boss seine Show-Qualitäten unter Beweis stellt, die viel zu seinem heutigen Ruhm beigetragen haben. In der Doku verrät Springsteen, dass "The River" vor allem dafür konzipiert sei, die großen Stadien dieser Welt zu füllen. Der Auftritt liefert einen beeindruckenden Beleg für das Gelingen dieser Zielsetzung. Die Fans sind wie Wachs in den Händen Bruce Springsteens, der wunderbar mit seiner E-Street-Band harmoniert. Besonders sein Epos "Jungleland" und der Titeltrack bleiben im Gedächtnis haften.

Mit "The River" erfüllte Bruce Springsteen, die hohen Erwartungen, die sich nach "Born To Run" und "Darkness On The Edge Of Town" einstellten, und ging zugleich einen wichtigen Schritt in seiner Entwicklung. Ähnlich wie die Figuren in seinen Songs liegt auch hinter ihm ein Reifeprozess. "Wenn man 30 ist, tickt die innere Uhr. Man ist definitiv angekommen, in der Erwachsenenwelt." "The Ties That Bind - The River Collection" erzählt die Geschichte hinter dem Album und zeigt Springsteen von einer persönlichen Seite. In dieser Hinsicht bleibt es nur zu hoffen, dass ähnliche Box-Sets folgen werden, die sich um die Entstehung seiner Folgealben drehen.

Trackliste

The River 1

  1. 1. The Ties That Bind
  2. 2. Sherry Darling
  3. 3. Jackson Cage
  4. 4. Two Hearts
  5. 5. Independence Day
  6. 6. Hungry Heart
  7. 7. Out In The Street
  8. 8. Crush On You
  9. 9. You Can Look (But You Better Not Touch)
  10. 10. I Wanna Marry You
  11. 11. The River

The River 2

  1. 1. Point Blank
  2. 2. Cadillac Ranch
  3. 3. I'm A Rocker
  4. 4. Fade Away
  5. 5. Stolen Car
  6. 6. Ramrod
  7. 7. The Price You Pay
  8. 8. Drive All Night
  9. 9. Wreck On The Highway

The Ties That Bind

  1. 1. The Ties That Bind
  2. 2. Cindy
  3. 3. Hungry Heart
  4. 4. Stolen Car
  5. 5. Be True
  6. 6. The River
  7. 7. You Can Look (But You Better Not Touch)
  8. 8. The Price You Pay
  9. 9. I Wanny Marry You
  10. 10. Loose End

Outtakes

  1. 1. Meet Me In The City
  2. 2. The Man Who Got Away
  3. 3. Little White Lies
  4. 4. The Time That Never Was
  5. 5. Nightfire
  6. 6. Whitetown
  7. 7. Chain Lightning
  8. 8. Party Lights
  9. 9. Paradise By The 'C'
  10. 10. Stray Bullet
  11. 11. Mr. Outside
  12. 12. Roulette
  13. 13. Restless Nights
  14. 14. Where The Bands Are
  15. 15. Dollhouse
  16. 16. Living On The Edge Of The World
  17. 17. Take 'Em As They Come
  18. 18. Ricky Wants A Man Of Her Own
  19. 19. I Wanna Be With You
  20. 20. Mary Lou
  21. 21. Held Up Without A Gun
  22. 22. From Small Things (Big Things One Day Come)

The Ties That Bind - Documentary

The River Tour, Tempe 1980 (Part One)

  1. 1. Born To Run
  2. 2. Prove It All Night
  3. 3. Tenth Avenue Freeze-Out
  4. 4. Jackson Cage
  5. 5. Two Hearts
  6. 6. The Promised Land
  7. 7. Out In The Street
  8. 8. The River
  9. 9. Badlands
  10. 10. Thunder Road
  11. 11. No Money Down
  12. 12. Cadillac Ranch
  13. 13. Hungry Heart
  14. 14. Fire
  15. 15. Sherry Darling
  16. 16. I Wanna Marry You
  17. 17. Crush On You
  18. 18. Ramrod
  19. 19. You Can Look (But You Better Not Touch)

The River Tour, Tempe 1980 (Part Two)

  1. 1. Drive All Night
  2. 2. Rosalita
  3. 3. I'm A Rocker
  4. 4. Jungleland
  5. 5. Detroit Medley
  6. 6. Where The Bands Are (Credits)
  7. 7. Ramrod (Bonus Rehearsal)
  8. 8. Cadillac Ranch (Bonus Rehearsal)
  9. 9. Fire (Bonus Rehearsal)
  10. 10. Crush On You (Bonus Rehearsal)
  11. 11. Sherry Darling (Bonus Rehearsal)

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1 Kommentar

  • Vor 8 Jahren

    Eines ist sicher, Herr Grevenbrock, ihrem Wunsch nach weiteren Box-Sets wird von Bruce INC. nachgekommen werden. Ist doch auch schön simpel: Man remastere die CD (die kann man gleich noch in einer weiteren Box verwerten) nehme ein paar Outtakes (die auch meist in anderen Boxen verwertet sind oder werden), bastle sich eine Doku über den Entstehungsprozess und/oder lege eine Live-DVD dazu (beides ebenfalls präsentiert um separat vermarktet zu werden) und schon greift der Fan zu, im Idealfall bei allen separat vermarkteten Artikeln, wei hier und da noch ein kleiner Bonus als Kaufanreiz dabei ist.
    Checkt man, was wirklich neu in der Box ist, und was man davon regelmäßig nutzt, ist der Nutzen geringer, als bei einer neuen regulären CD.