laut.de-Kritik
Der ehemalige Barkeeper in der Rolle des gekreuzigten Christus.
Review von Markus Brandstetter1998 waren der ehemalige Barkeeper Dave Matthews, Schlagzeug-Überkönner Carter Beauford, Violinist Boyd Tinsley, Saxophonist LeRoi Moore und Bassist Stefan Lessard musikalisch längst in der obersten Liga der US-Musikbranche angekommen. Für ihr Album "Crash" gab es 1996 zwei Grammys, live brach die Dave Matthews Band ohnehin alle Ticketrekorde, die Fangemeinde war groß, devot und eingeschworen, US-Tourneen wurden zu wahren Triumphzügen. Wie schon bei den Vorgängeralben begab sich die Band für Longplayer Nummer drei (sieht man von den Eigenveröffentlichungen der frühen Tage ab) erneut mit dem Produzenten Steve Lillywhite ins Studio, aufgenommen wurde in New York und in los Angeles.
Lillywhite machte es der Band wahrlich nicht einfach, wollte das Allerbeste aus den Musikern, den Songs, den Klangmöglichkeiten herausholen. Er ließ sie Teil um Teil immer wieder und wieder einspielen, baute um, schnitt Teile, Soli, Sequenzen neu zusammen, ließ die Band diese Teile erneut einspielen. Lillywhites Detailversessenheit und seine räumliche Idee von Klang sind es auch, die "Before These Crowded Streets" nach etlichen Hördurchgängen immer noch so lohnend machen: An allen Ecken oder Enden blitzen immer wieder andere Details auf, das Geschehen füllt den ganzen Raum aus. Vor allem in der zweiten, deutlich stärkeren Hälfte der Platte ist "Before These Crowded Streets" nicht nur ein tolles Album, sondern auch ein bemerkenswertes Klangkunstwerk.
Alles beginnt mit dem sich anschmeichelnden "Pantala Naga Pampa": "Come and relax now, put your troubles down / No need to bear the weight of your worries / Just let them all fall away" singt Matthews, großteils im Falsett. Der Titel ist ein Band-Insiderwitz: Im umgangssprachlichen Tamil soll er "Ich habe eine Schlange in meiner Hose" bedeuten – eine Phrase, die der Bandkoch laut Legende gerne und häufig benutzte und die der Band so gefiel, dass sie es als Titel verwendete. "Pantala Naga Pampa" entwickelte sich aus dem längeren Song mit gleicher Melodie "What Will Become Of Me" und zählt für viele DMB-Fans zu den besten 40 Sekunden, die Matthews und Mitstreiter je auf Platte pressen ließen.
Danach geht die Band bei "Rapunzel" – der Arbeitstitel: "Funk In 5" deutet es an – in einen Funk im 5/4-Takt über und Matthews besingt eines seiner Lieblingsthemen: den sexuellen Akt des Cunnilingus. "Open wide, oh so good I eat you / Take me for a ride in your sweet delicious perfect little mouth / There upon I linger / There will be no doubt that I do my best for you" heißt es da etwa. Textlich ist das vor allem rückblickend etwas albern, musikalisch macht "Rapunzel" hingegen schnell klar, was die Band ausmacht: eine tighte Einheit, die ihren einzigartigen Stil zwischen Rock, Pop, Akustik, Funk und Jazz (denn dort kommen Beauford und der 2008 verstorbene Moore her) gefunden hat, mit ungeraden Time Signatures arbeitet und den Songs mit teils recht simplen harmonischen Grundgerüsten ("Pig") eine ungewöhnliche Richtung gibt. Einen großen Anteil daran hat neben Hauptsongschreiber Matthews Schlagzeuger Carter Beauford, dessen fulminantes und kreatives Spiel live wie auf Platte ein wahres Erlebnis ist.
"Before These Crowded Streets" ist dunkler, komplexer, vielschichtiger geraten als seine Vorgänger – das gilt auch für die Themenwahl: denn neben Matthews-typischen Carpe-Diem-Motiven "Pig", "Stay (Wasting Time)" und amourösen Offerten ("Rapunzel", "Crush") besingen DMB hier auch Krieg ("The Last Stop", Arbeitstitel: "The Egyptian Song" bzw. "Black and White") oder die Vertreibung indigener Völker ("Don't Drink The Water"), erzählen Geschichten von der Kehrseite des Fortschritts und der Isolation ("The Dreaming Tree").
So richtig stark wird das Album in der zweiten Hälfte – da geht es Schlag auf Schlag: bei "The Stone" lamentiert Matthews über den Tod, dazu spielt das Kronos Quartet, die Takte sind ungerade, die Harmonien changieren zwischen Aussichtslosigkeit und Hoffnung in den Refrains. Eine nahezu perfekte Studioaufnahme, die zeigt, wie großartig Lillywhite und DMB in ihrer Blütezeit zueinander passten.
"Crush" ist eine unwiderstehliche Bar-Jazz-angehauchte Ballade, die Stefan Lessard mit seinem Bass-Lick trägt und die immer sich immer wieder zu einem liebestrunkenen, euphorischen Chorus aufbäumt, (der mittlerweile gefeuerte) Violinist Boyd Tinsley bekommt viel Raum zum Solieren. Episch wird's bei "The Dreaming Tree", "Pig" feiert das Leben und die Endlichkeit – und bei "Spoon" singt Matthews im Duett mit Alanis Morissette und schlüpft in die Rolle des gekreuzigten Christus: "From hand to hand / Wrist to the elbow / Red blood sand / Could Dad be God / Crosses cross hung out like a wet rag / Forgive you? Why? / You hung me out to dry". Dazu spielt ein weiterer Stargast – Bela Fleck – ein wunderschönes, langsames Banjo-Solo.
Zwischen und nach den Stücken gibt es immer wieder Interludes, oder "Commercials", wie die Band die Zwischenstücke selbst nennt. Am schönsten ist jenes nach "Spoon", gemeinhin als "Last Stop (Reprise") bekannt. "Come in from the cold for a while / Everything will be alright / Come in from the noise for a time / Everything will be alright / For now goodbye", singt Matthews und hört musikalisch wie textlich dort auf, wo er mit "Pantala Naga Pampa" angesetzt hat.
Es sollte die letzte Veröffentlichung mit Lillywhite für eine lange Zeit sein: Die nächste Albumproduktion brach die Band ab und begann mit Glen Ballard noch mal neu. Heraus kam das untypische und von vielen Fans ungeliebte "Everyday": kürzer, kompakter, poppiger, eher Dave Matthews mit Musikern als die Einheit DMB. Was hätte werden können, zeigten die geleakten (unfertigen) Studioaufnahmen der vorigen Session. Die unter "The Lillywhite Sessions" bekannt gewordenen Aufnahmen zeigen ein Album, das auf "Before These Crowded Streets" vielleicht sogar noch eins draufsetzen hätte können – die Neuaufnahme der "Lillywhite Sessions"-Stücke mit Stephen Harris als "Busted Stuff" kamen an dieses Potenzial nicht mehr heran.
Für viele ist "Before These Crowded Streets" der letzte wirklich große Studio-Wurf der Band: daran änderte auch die erneute, aber eher halbherzig ausgefallene Zusammenarbeit mit Lillywhite bei "Busted Stuff" aus dem Jahr 2012 nichts.
Dieses Jahr feiert "Before These Crowded Streets" sein 20-jähriges Jubiläum. Fans hoffen nicht nur auf eine Wiederveröffentlichung auf Vinyl – die längst vergriffene LP wird für mehrere hundert Dollar gehandelt – sondern auch auf ein ganz bestimmtes unveröffentlichtes Stück. Der Song "MacHead" (Der Titel setzt sich aus Paul McCartney und Radiohead zusammen, so soll das Stück klingen) tauchte auf einer Studioliste auf und gilt als heiliger Gral der DMB: Nur die engsten Insider haben es gehört, Lillywhite beschrieb es als "betörend schön". Zwanzig Jahre später lebt die Hoffnung, das Stück vielleicht bald endlich zu Gehör zu bekommen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
5 Kommentare mit einer Antwort
Keine Ahnung wieso, aber die Band ist immer an mir vorbeigegangen.
In den USA ist sie sehr erfolgreich, in Deutschland hingegen kaum bekannt. Ist jetzt auch nicht unbedingt eine Band, die die 90er geprägt hat.
Eklektizistischer Alternative Rock der späten 90er, klingt aber etwas steril. Solides 3-4 Sterne-Album, aber keines, das man nach 20 Jahren noch künstlich hochhalten muss. Erwähnenswert ist, dass es den "Titanic"-Soundtrack von Platz 1 der US-Albumcharts verdrängte.
Ich hätte dennoch Lambchop vorgezogen.
Hm. Also - ja, das Album wird in der zweiten Hälfte besser. "Crush", "Dreaming Tree" und "Spoon" sind große Taten, die allein schon die Veröffentlichung gerechtfertigt haben. Es sind ein paar richtig herausragende Titel auf dem Album zu finden und auch einzelne Passagen nicke ich gerne ab; auf Albumlänge habe ich trotzdem das Debüt "Under The Table And Dreaming" immer den "Crowded Streets" vorgezogen, weil ich dort das Timing besser fand - die Songs waren so lang, wie die Songs sein mußten. In den "Crowded Streets" werden meiner Meinung nach zu viele Lieder künstlich am Leben erhalten, damit sie auch bloß die 6-, 7- oder 8-Minuten-Grenze überschreiten, ohne daß noch etwas von Substanz zu sagen wäre. Irgendwann fangen die Lieder zu plätschern an, und dann gleitet man vom einen zum anderen Titel, ohne in der Zwischenzeit aufgeschreckt zu werden. Das Debüt hatte diesbezüglich mehr Pfeffer zu bieten, war vielleicht etwas ungestümer, verspielter, verfügte aber auch über mehr Bodenhaftung. Bei "Under The Table" hatte ich das Gefühl, daß die Lieder ein bißchen krumm des Weges kommen, weil sie halt so gewachsen sind, bei "Crowded Streets", weil sie auf höhere Anordnung hin so zurechtgeschnitten wurden. Insofern hätte ich lieber das Debüt als Meilenstein gesehen; ein Album vom gleichen Rang habe ich von Dave Matthews erst wieder 2009 auf dem Plattenteller gehabt ("Big Whiskey"), aber das steht wohl aufgrund der Minderjährigkeit derzeit wohl noch nicht zur Wahl ...
Gruß
Skywise
"[Pantala Naga Pampa] zählt für viele DMB-Fans zu den besten 40 Sekunden, die Matthews und Mitstreiter je auf Platte pressen ließen."
Ich gönn's ihnen. Mir kommt bei diesem Intro eher das kalte Kotzen...
Als nächstes bitte Hootie and the Blowfish.