laut.de-Kritik

Nun haben die Geier lang genug gekreist.

Review von

Fünf Jahre haben sich die Geier Zeit gelassen, kreisend über dem musikalischen Nachlass David Bowies. Thinner und whiter kann er jetzt nicht mehr werden, der Dude, und so haben sie zugeschlagen. "Toy" stammt aus dem Jahre 2000 und damit einer nicht leicht zu greifenden Phase in der Karriere des Engländers. Das auf "Toy" aufbauende und folgende "Heathen" und das wiederum nächste Album "Reality" markieren die sanfte Renaissance des zeitgenössisch-konventionellen Popsängers Bowie nach der 1999 mit "Hours" beendeten Art-Pop-Phase. Man muss den Grabschändern der Musikindustrie zugestehen: "Toy" sollte durchaus veröffentlicht werden, nur hatte das Label damals arge Finanzprobleme und so erblickte das Werk nie das Tageslicht.

Viele der Songs von "Toy" fanden sich im ausgesprochen wohlwollend rezipierten (wenngleich kommerziell mäßig erfolgreichen) "Heathen" und B-Seiten wieder. Um das Ganze noch komplizierter zu machen, umfasste "Toy" keineswegs nur neue Songs, sondern größtenteils Neuaufnahmen aus dem Frühwerk Bowies und wurde in einer schlankeren Version als Teil eines Boxsets bereits im Herbst 2021 veröffentlicht. Die Frage stellt sich: Besitzt "Toy" Legitimität und wenn ja, genug für drei (!) CDs, pro CD in je einer anderen Abmischung?

Die vorliegende Version, 2000 aufgenommen mit Bowies Live-Band, wurde vom Original-Produzenten Mark Plati mitgemischt und fand interessanterweise die ausdrückliche Zustimmung von Tony Visconti, der erst ab "Heathen" wieder zu Bowie stieß. Viel historischer Ballast, viel Einordnung, gottlob kann man auch einfach die Lieder hören.

Der Rock-Jingle "I Dig Everything" beginnt den Reigen leider schwach. Der Mid-Tempo-Song klimpert fröhlich rockend vor sich hin, ohne nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Die typischen Stärken Bowies, zuvorderst seine ausdifferenzierte Dynamik, kommen in dem für den alten Meister zu schlichten Pop-Rock-Song nicht zum Tragen.

Die Gesangsleistung Bowies wirkt auf "Toy" allerdings differenziert und kraftvoll, davon können sich losgelöst vom Gesamtkunstwerk aber nur Afficionados etwas kaufen. Denn teils kommt die Stimme wie in "You've Got A Habit Of Leaving" nicht durch den Produktionsmatsch durch, teils taugt das Songmaterial einfach zu wenig, bietet Bowie zu wenig Reflektionsfläche. So wird das operettenhafte "Shadow Man" von Bowies Stimme allein nicht aus dem kitschigen Kaugummibrei gezogen, in dem es über vier Minuten lang verharrt. Einige Songs wie "Karma Man" und das stinkfaule "Baby Loves That Way" kommen über den Status der Spielerei nicht hinaus, wirken skizzenhaft und nicht kohärent zu Ende gespielt.

Lichtblicke brechen sich allerdings regelmäßig Bahn. "The London Boys" gefällt als melodramatische Rückschau auf das junge Ich, "Silly Boy Blue" ist tatsächlich etwas silly mit seiner dämlichen Flöte, Bowie hatte aber offenkundig Spaß an der Aufnahme und eine an beste Zeiten erinnernde Präsenz vorm Mikrofon. "Conversation Piece" hat eine eigene Anziehungskraft als scheinbare B-Seite von einem ungewöhnlich gut gelaunten Cave der 10er-Jahre. Das Outro "Toy (Your Turn To Drive)" gefällt mit einem raunenden Bowie und wabernden Instrumenten und windschiefer Oboe/ Saxofon - jedenfalls leidet es und klingt dabei toll - sogar hervorragend.

Insgesamt reicht das nicht für ein würdiges Bowie-Album, dafür ist "Toy" zu disparat und keinesfalls mehr als die Summe seiner Teile. Einige dieser Teile sind aber nun mal von einem sichtlich gut aufgelegten Bowie aufgenommen, wenn auch nicht von ihm mit dem letzten Schliff versehen. Das reicht bei Herrn Jones aber für ein immer noch gutes Werk. Allerdings gilt: David Bowie hat viele Alben aufgenommen; manche besser als andere, aber in ihrer Gesamtheit genug für ein Leben. Es gibt keine künstlerische Notwendigkeit, musikalische Zombies und Kinder ihrer Zeit wie "Toy" aus dem damaligen Zusammenhang gerissen aufzutauen.

CD 2 kann man im Übrigen vergessen, durch andere Abmischungen ändern sich die vorliegenden Songs zwar in Detailbereichen, gewinnen aber keine nennenswerten Qualitäten hinzu. Wer den zutreffend benannten "Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix" der CD 3 nachweislich am Stück aushält, bekommt vom Autor auf Anfrage ein Twix spendiert. "Hole In The Ground - Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix" sollte aktiv wegen Verstoßes gegen §189 StGB verfolgt werden. Dasselbe gilt natürlich auch für den "Designer" des Covers, wenngleich das angeblich von Bowie selbst stammt. Man mag es nicht glauben.

Trackliste

  1. 1. I Dig Everything
  2. 2. You've Got A Habit Of Leaving
  3. 3. The London Boys
  4. 4. Karma Man
  5. 5. Conversation Piece
  6. 6. Shadow Man
  7. 7. Let Me Sleep Beside You
  8. 8. Hole In The Ground
  9. 9. Baby Loves That Way
  10. 10. Can't Help Thinking About Me
  11. 11. Silly Boy Blue
  12. 12. Toy (Your Turn To Drive)
  13. 13. Liza Jane
  14. 14. You've Got A Habit of Leaving (Alternative Mix)
  15. 15. Baby Loves That Way (Alternative Mix)
  16. 16. Can't Help Thinking About Me (Alternative Mix)
  17. 17. I Dig Everything (Alternative Mix)
  18. 18. The London Boys (Alternative Version)
  19. 19. Silly Boy Blue (Tibet Version)
  20. 20. Let Me Sleep Beside You (Alternative Mix)
  21. 21. In The Heat Of The Morning
  22. 22. Conversation Piece (Alternative Mix)
  23. 23. Hole In The Ground (Alternative Mix)
  24. 24. Shadow Man (Alternative Mix)
  25. 25. Toy (Your Turn To Drive) (Alternative Mix)
  26. 26. In The Heat Of The Morning (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)
  27. 27. I Dig Everything (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)
  28. 28. You've Got A Habit of Leaving (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)
  29. 29. The London Boys (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)
  30. 30. Karma Man (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)
  31. 31. Conversation Piece (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)
  32. 32. Shadow Man (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)
  33. 33. Let Me Sleep Beside You (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)
  34. 34. Hole In The Ground (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)
  35. 35. Baby Loves That Way (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)
  36. 36. Can't Help Thinking About Me (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)
  37. 37. Silly Boy Blue (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)
  38. 38. Toy (Your Turn To Drive) (Unplugged & Somewhat Slightly Electric Mix)

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