laut.de-Kritik

Händchenhalten in Extremsituationen.

Review von

Dreizehn Tracks. Keine Features. Kranke Samples. Diesmal zur Abwechslung nicht heimlich unter Quasi-Ausschluss der Öffentlichkeit irgendwo im hintersten Untergrund verschenkt, sondern via Melting Pot Music unters Volk gebracht. Das wär' auch schon alles, das ich nüchtern über "Terror 22" zu sagen vermag. Du willst es objektiv? Fuck Off.

Bleib' du mal professionell distanziert, wenn dich das Leben gerade mit dem Kühllaster überfahren hat. Du liegst auf dem Asphalt, in deiner Brust klafft ein scheunentorgroßes Loch, die Wundränder schockgefrostet, die wahren Ausmaße der Verletzung erkennst du noch gar nicht, weil: bloß nicht zu genau hinschauen. Nicht hinfühlen. Du willst es gar nicht sehen, nicht wissen. Nein.

Doch. Unvermittelt kniet dieser Kerl über dir, versenkt beide Hände in deinem offenen Leib und reißt dir die Eingeweide raus. Feucht klatschen sie neben dir aufs Pflaster.

Statt dich aber in deinem Blut, deinen Tränen, in Regen, Rotz und Dreck liegen zu lassen, fängt der Typ an zu sortieren. Leber, wichtig, kommt wieder rein. Das Herz? Das brauchst du noch, Goldstück. Gruselig, du kannst es beinahe hören. Guck' mal, schlägt noch. Ehrlich? Ja, tatsächlich.

Musik, die solches mit dir anstellt, ist groß. Ganz groß. Das schick' ich meinem Bruder, das wird ihm gefallen. Bang. Flashback. Wieder der Laster. Nein, ich werd' dir wohl nichts mehr schicken, Kleiner. Nie mehr. In den Momenten, in denen du das realisierst, bleibst du besser nicht alleine.

Degenhardt taugt bestens zum Händchenhalten in Extremsituationen. Er kann sein Gesicht dreimal hinter einer Strickmütze verstecken und da noch eine Plastiklarve, einen Mundschutz und eine Kapuze drüberziehen. Er tritt dir trotzdem komplett nackt, offen, schutzlos, völlig ohne Pose gegenüber. Die ganzen anderen Kasper im Deutschrap-Zirkus kommen dir im Vergleich dazu wie ihre eigenen Pappaufsteller vor, noch mehr als ohnehin schon.

Dieser eine hier dagegen ist durch und durch menschlich, so dermaßen echt, ihm suppen die Gefühle aus jeder Pore, aus jedem Vers. Jede einzelne Zeile eitert Emotion: Wut, Trauer, Enttäuschung und Resignation, Scham und Zweifel, aber auch Liebe. Oh, ja, vor allem die. Es geht gar nicht anders. Du musst diesem Degenhardt begegnen, wie er dir. Waffe runter. Deckung runter. Arme weit geöffnet. Niemals immun.

"Terror 22", schon lyrisch ein einziger poetischer, dreckiger, zärtlicher Hardcore-Hirnfick, reiht zudem einen fantastisch produzierten, beängstigend atmosphärischen Beat an den nächsten. Diese Platte verdient, auf einem geflügelten Einhorn ins Mainstream-Radio zu reiten, um dort ein freundliches, kleines, verstörendes Massaker zu veranstalten.

Ich fieberwunschträume mir Degenhardt, den ewigen Underdog, getragen von der Liebe seiner vierzehn Fans (die schon bald wenigstens zu achtundzwanzigst sein sollten) in jedes verdammte Magazin, in jedes Feuilleton, auf die großen Bühnen. Wenn dieser Tag einst kommt, ich schwöre, dann streicht sich Yo Grandma Fromm über die schartigen Narben und lächelt. Ich wusste es. Schon immer.

... dann wachst du auf. Von wegen Narben. Die Wunden sind frisch, ganz frisch. Du bekommst aber zum ersten Mal das Gefühl, sie könnten heilen, irgendwann: Jemand hat sie verbunden und die Verbände über und über mit Herzchen getaggt.

Trackliste

  1. 1. Boiler
  2. 2. Sex, Drugs & Arbeitsmoral
  3. 3. Fett & Rosig
  4. 4. Raus 4
  5. 5. Ich Töte Spione
  6. 6. Ideal Standard
  7. 7. Fuck Off
  8. 8. Mickey Maus Ist Eine Ratte
  9. 9. Rattenkönig
  10. 10. Dr. Sommer
  11. 11. INZFTZ
  12. 12. Lächeln Töten Lächeln
  13. 13. XX

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Degenhardt

"Ich bin keine beschissene Kunstfigur." Darauf legt Degenhardt, Maske hin, Identitätsverschleierungstaktiken her, riesigen Wert. Den deutschen Experimental-Hip …

LAUT.DE-PORTRÄT Vandalismus

Nach knapp einer Dekade beschließt der Künstler, der zuvor den Namen Degenhardt trug, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Degenhardt, bekannt für seine …

17 Kommentare mit 37 Antworten

  • Vor 7 Jahren

    So nach intensiver Hördurchgangspassion mein bisheriges Album des Jahres und es wird mehr als schwer das zu toppen, denn hier treffen echtes Raptalent auf herrlich asig-verkopfte Texte die einen charmant doch mit rauer Sitte zum Zuhören zwingen und mit Sachkenntnis liebevoll produzierte Kulissen den Vorhang niemals fallen lassen

    @Dani
    Hat der Hiddentrack einen Namen?

    • Vor 7 Jahren

      Macht natuerlich keinen Sinn, die "verkopften" Texte hier abzufeiern, derweil aber kein Wort mehr zum neuen Prezident-Album zu verlieren, weil es natuerlich jetzt wenig glaubwuerdig kaeme, den damaligen Beitrag zu KIEBG ("einfach nichtssagend", Musik "belanglos") noch halbwegs rechtfertigen zu wollen.

      Degenhardt wird schliesslich hart auf den streets gepumpt und gerade textlich kann das der gemeine Fler-Fan fuehlen, denn Degenhardts Duktus ist natuerlich grundlegend simpler als der von Prezident.

      Ist Degenhardt jetzt eigentlich cool, weil der etwas duemmliche Halbfranzose ihn wo drauf hatte, oder geht Prezi nun doch klar, weil Degenhardt auf 'Bonusstufe' mitrappt? Glasklares Wendehalsmanoever am Start.

    • Vor 7 Jahren

      Und wie weit sind Aussagen wie "Ich schreib' mir selber Nachrufe." oder "Als haette man mit 30 keinen Grund mehr, wuetend zu sein." , oder eben 'Chancenverwertung' im Gesamten eigentlich von Degenhadts Attituede entfernt?

      Fragen, die sich nicht beantworten lassen, ohne sich in widerspruechlicher Erklaerungsnot zu verheddern.

    • Vor 7 Jahren

      Ah! Wut flammt auf, herrlich!

      Schön!

      Das fehlt mir hier, dieses Feuer, der Austausch untereinander, mir schreiben hier viel zu viele nur für sich
      Danke Baudelaire!

      Mir war natürlich klar, dass mein "Verkopft" sicherlich nicht ohne Folgen bleiben sollte. Mein polemischer Rant Anno 2013 war vielmehr der Person des Prezident geschuldet, den ich menschlich untragbar finde, denn seiner Musik, die du jetzt im Delirium zelebrierst, die mir jedoch nicht so zugesagt hat

      Den dümmlichen Halbfranzosen hab ich jetzt versöhnlich überlesen, Degenhardt kennt man oder nicht. Sein Feature bei Kaisa, um es mal beim Wort zu nennen, ist dennoch sehr gut und in exzellenter Stimmung ausgeführt

      Widersprüche will ich mir nicht vorwerfen lassen, solange man gegen jede Subgenre-Logik unbedingt einen Fler in diese Diskussion provokant einfließen lassen muss

      Und richtig, das Album wird hart auf den Streets gepumpt. Ich brauche keinen Schaukelstuhlconfort, sondern höre mir Musik bewusst draußen an in entsprechender Atmosphäre

      Ich kann natürlich jetzt auch eine Review zum aktuellen Album von Prezi machen, könnte ich. Kann passieren, oder auch nicht, mal schauen :)

    • Vor 7 Jahren

      Ich bin nicht wuetend, lediglich amuesiert und/oder irritiert, wie du auf Degenhardt steilgehst, dessen Hoererschaft sich wohl zu einem nicht geringen Teil mit der von Prezident decken duerfte, aber auf der anderen Seite halt halt das Studentengelaber.

      Es ist ja bekannt, dass ich wohl kaum etwas mehr hasse als Studentenrap (also z.B. auch das ganze US-Mueslizeug, das du so gerne magst und hier regelmaessig verlinkst), und Prezident hat fuer mich damit absolut nichts zu tun, nur weil er Germanistik und Geschichte macht.
      In meinem Freundeskreis gibt es den haertesten Kritiker, den ich kenne. Der findet quasi alles scheisse. ALLES. Dem habe ich die Tage mal gesagt, er soll sich Prezident geben - er war begeistert.

      Apropos "Delirium": man muss ja jetzt keine deiner Beitraege zu Bushido-, Shindy- oder Fler-Alben hier raussuchen. ;)

      Menschlich scheinen D. und P. jedenfalls ganz gut miteinander auszukommen. Aber ich frage mich ja auch immer, was in dir so vorgeht, wenn Bushido mal wieder herzhaft ueber Patrick lacht.

    • Vor 7 Jahren

      Ich verlinke querbeet alles was gut klingt und eine bestimmte Atmosphäre vermittelt, von der Golden Era bis in die vielschichtige Jetzt-Zeit. Mag cyne, dass da auch mal sogenannter Müsli-Rap dabei ist, was auch immer das sein soll. Raptechnisch und vom Produktionsniveau ist das oftmals besser als alles aus europäischen Gefilden

      Wenn es dich amüsiert, dass mir Degenhardt, den ich schon länger höre/kenne als ein paar Monate, zusagt und ich solche Lyrics übergreifend mehr schätze als Anabolika-Gestammel, dann bist du eben eine Frohnatur, die sicherlich gerne die Classic-Kritik anführen kann, die war fair, jedoch das Album nicht der erhoffte große Wurf gewesen, im Nachhinein betrachtet

      Shindy hat dem Mainstream 2013 eine Frischzellenkur verpasst, man wird sehen wohin die Reise geht, nur Amerika kopieren in der Folgezeit wird nicht reichen

      Bushido und Fler sind Teenager in Körpern Mitt-End-Dreißiger. Bei dem Einem ist die musikalische Karriere so ziemlich vorbei, beim Anderen steckt sie in der X-Ten Wandlung und wenn Bushido über Flers neuerliche Kindereien lacht, dann soll ers machen, ist mir ziemlich egal als Endverbraucher, bin ja da nicht persönlich involviert und habe ganz andere Probleme/Angelegenheiten zu regeln

    • Vor 7 Jahren

      sorry. jetzt erst gesehen. der hidden track heißt la boum. bisher album des jahres, ohja.

  • Vor 6 Jahren

    Gebe dem Album gerade nochmal 'ne Chance.

    Was mir YouTube noch so aus Degenhardts(?) Umfeld vorgeschlagen hat:

    https://www.youtube.com/watch?v=dYUYN9aiTUM

    TeppichMesserBois - John F. Enemy (2017)

    https://www.youtube.com/watch?v=kt_dzJIOem8

    Loock & Disko Degenhardt - Manowar (alter Kram von ihm, 2011, eher zur Belüstigung :D)