laut.de-Kritik

Die DVD zur desaströsen Mammut-Tournee 1993.

Review von

Fragt man Depeche Mode-Fans, die ihre Freizeit auf 101 Stunden langen DM-Parties in Hamburg zubringen, nach ihrer Lieblings-Bandphase, kommt im Schnitt sicher das Jahr 1986 heraus. Damals erschien "Black Celebration", das düsterste Album der Engländer bis dato, und obendrein durch und durch elektronisch. Im Gegenzug gefriert dem Großteil jener Anhänger das Gesicht zur Grimasse, sobald man aufs Jahr 1993 zu sprechen kommt.

Mit "Songs Of Faith & Devotion" entdeckten Depeche Mode damals den Rock'n'Roll (pfui!), mit der Single "Condemnation" versuchten sich die Engländer gar an uramerikanischem Gospel (bäh!), und das alles dank des über Nacht langhaarigen (igitt!) und frisch nach Kalifornien umgesiedelten Grunge-Fans Dave Gahan. Zwar weiß die Legende um den Unmut, den Gahans Enthusiasmus bei den Kollegen Gore, Wilder und Fletcher auslöste, als der Sänger ferner für einen deutlich rockorientierteren Live-Ansatz des Quartetts plädierte. Dennoch gilt die Devotional Tour 93/94 als exemplarisch für die Abkehr von der steifen, über Jahre hinweg eisern befolgten Kraftwerk-Performance-Logik und brachte sogar zwei soulige Backgroundsängerinnen auf eine DM-Bühne.

Martin Gore schnallte sich noch öfter als bisher die Klampfe um und huldigte im silbernen Glitzer-Outfit seiner Glam Rock-Jugend, während sich Technikgenie Alan Wilder nach zweijährigem Crash-Kurs hinter ein echtes Schlagzeug setzte. Nun brauchte ein Song wie "Never Let Me Down Again" zum Nachweis seiner Klasse zwar nicht unbedingt zusätzliches Live-Drumming, neuen Songs wie "In Your Room" verpasste Wilder aber mit geringen Mitteln ungeheuren Druck.

Überhaupt: so desaströs die Mammut-Tournee mit über 150 Konzerten in eineinhalb Jahren, Nervenzusammenbrüchen, Drogen-Exzessen und vier nur noch über persönliche Betreuer miteinander kommunizierenden Bandmitgliedern auch endete, auf der Bühne ging's ordentlich ab, und Anton Corbijns Visuals (Wahnsinn: "Walking In My Shoes", "I Feel You") sowie das Bühnendesign gehören zu dessen besten Arbeiten. Erstmals bekommt der Fan auch die Songs "Policy Of Truth" und "Halo" aus Frankfurt und Barcelona serviert, wenn auch lieblos ans Konzertende angehängt.

Gahan missachtet mit seiner spirituellen Halskrause zwar eklatant den bis dato bei Depeche immer sehr wichtigen Style-Code, seine Frontmann-Turnereien auf der gigantischsten Bühne seit Bandbestehen und die dadurch ausgelöste Euphorie im Publikum lässt sich aber auch elf Jahre später auf der Wohnzimmercouch noch gut nachvollziehen. Nur Corbijns altbekannte Vorliebe für unscharfe Kamera-Einstellungen überschreitet manchmal doch die Grenze zum Pixelchaos.

Richtig ärgerlich ist aber, dass Mute mal wieder schlampige Produktionsmethoden großzügig durchgehen ließ. Die Videoclips auf der zweiten DVD sind aufgrund von Lautstärkeschwankungen praktisch unmöglich zu genießen, auch wenn so schwer zu bekommende Clips wie "One Caress" Beachtung finden. Für alle Kneipen- oder Clubbesitzer unter den Devotees hat man die zweifellos tollen Live-Projektionen noch mal in einer Extrarubrik als Vollbild mit drauf gepackt. Immer wieder schön anzusehen ist dafür Bonus-Material wie Interviews, diesmal in Form einer MTV Rockumentary.

Mute-Chef Daniel Miller beeindruckt dort mit reichlich Haupthaar, Gahan philosophiert drogentrunken über seine neu erlangte Sicht auf den Prozess des Musikmachens, und Corbijn sagt Sätze wie: "In the beginning I thought they were a teeny boppy band, so I didn't really want to touch them". Warum sich das ab 1986 änderte, erzählt der Filmemacher überdies in einem Extra-Monolog.

Die Show-Gigantomanie jener Tage und das Wissen um ihre beinahe katastrophalen Folgen für einzelne Bandmitglieder gruselt im Nachhinein ebenso, wie sie dank Corbijns fantastischer Konzeption fasziniert. "Devotional" zeigt einen komplett anderen Live-Ansatz als "One Night In Paris" oder "101" auf, und ist daher auch Besitzern jener DVDs zu empfehlen. Außerdem schaffte es erstmals seit 1986 der Song "Fly On The Windscreen" wieder ins Live-Programm, woran auch die "Black Celebration"-Fanfraktion ihre dunkle Freude haben dürfte.

Trackliste

  1. 1. Higher Love
  2. 2. World In My Eyes
  3. 3. Walking In My Shoes
  4. 4. Behind The Wheel
  5. 5. Stripped
  6. 6. Condemnation
  7. 7. Judas
  8. 8. Mercy In You
  9. 9. I Feel You
  10. 10. Never Let Me Down Again
  11. 11. Rush
  12. 12. In Your Room
  13. 13. Personal Jesus
  14. 14. Enjoy The Silence
  15. 15. Fly On The Windscreen
  16. 16. Everything Counts
  17. 17. Bonus Track: Halo
  18. 18. Bonus Track: Policy of Truth

Devotional Live Projections

  1. 1. Walking In My Shoes
  2. 2. Stripped
  3. 3. Condemnation
  4. 4. Judas
  5. 5. I Feel You
  6. 6. Never Let Me Down Again
  7. 7. In Your Room
  8. 8. Enjoy The Silence

Promotional Videos

  1. 9. I Feel You
  2. 10. Walking In My Shoes
  3. 11. Condemnation (Paris Mix)
  4. 12. In Your Room
  5. 13. One Caress (US Video)
  6. 14. Condemnation (live)

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1 Kommentar

  • Vor 16 Jahren

    ich bin erst über SOFAD zum DM Fan geworden. Genauer - über "I feel you" zum Mr. Gahan Fan.
    Über ihn dann zum DM Fan.
    Und das bin ich seitdem geblieben.
    "Devotional" ist für mich durch den Zustand der einzelnen Band-Mitglieder ein wahrhaftiges Zeugnis für DM.
    Gahan auf Droge und daher immer auf dem schmalen Grad zwischen Wahnsinn und Genialität performt so aus sich heraus wie nie sonst. Er singt mit solcher Hingabe - ich kann mich nicht satthören. Und NIE sind die drums bei DM TREIBENDER als bei "In your room" - Mr. Wilder legt ALLES in den Beat und DM wird zur Rockband - begnadet.

    ok - ich LIEBE DM und freue mich auf ALLES was von den drei verbliebenen Mitgliedern kommen mag.

    Ich sehe mir auch gern PTA an - aber DEVOTIONAL wird wohl auf ewig meine DM-Lieblings-DVD bleiben.