laut.de-Kritik

"You can never leave."

Review von

H. G. Francis' "Die Gruselserie" und die Comicreihe "Gespenster Geschichten" haben mich sozialisiert. Howard Carpendales "Laura Jane" erledigte den Rest. Als ich mich dann mit elf Jahren das erste Mal mit dem Text von "Hotel California" von den Eagles beschäftigte, war mir sofort klar: Das ist ein Grusel-Märchen! Dass man auf dem Gatefold-Foto des Albums schemenhaft eine Figur auf dem Hotel-Balkon erkennt, verstärkte diesen Eindruck noch. Eine extra für diesen Text durchgeführte Umfrage ergab übrigens, dass jeder in meinem Freundeskreis diese Interpretation teilt. Nur eine Morgenmagazin-Moderatorin meinte kürzlich: "Hach, so ein schönes Urlaubslied."

Es gibt jedoch noch viele weitere Auslegungen. Handelt es von Heroinsucht? Einer psychiatrischen Klinik? Einer Hippie- oder gar einer satanischen Sekte? Henley beschreibt das Lied jedoch ganz nüchtern als "unsere Interpretation vom High Life in Los Angeles". Das schließt all das andere zwar nicht aus, klingt aber doch sehr nüchtern und langweilig. Ein Teil von mir bleibt also einfach weiter bei meiner Theorie. Ich lasse mir doch von so einem dahergelaufenen Songwriter nicht sagen, wie ich seine Lieder zu verstehen habe! So.

Dass die Interpretationen zu dem Song so intensiv und mannigfaltig ausfallen, liegt jedoch nicht daran, dass der Text vage bliebe, sondern viel mehr an Henleys mehrfach unter Beweis gestelltem Talent ("Desperado", "The Boys Of Summer"), schon mit einfachen Mitteln unheimlich lebendige Bilder zu erzeugen. "On a dark desert highway / Cool wind in my hair / Warm smell of colitas / Rising up through the air."

Doch nicht alleine Henleys mit der Hilfe von Glen Frey entstandener Text machte aus "Hotel California" einen Klassiker. Bei diesem vor exzellenten Ideen nur so übersprudelnden Meisterwerk der Musikgeschichte kam alles zusammen. Vom langen Intro zum ungewöhnlichen "Mexican Reggae"-Touch. Von dem verwobenem Arrangement aus harmonischen Gesangsharmonien, melodischem Bass, markanten Drumfills bis hin zu einem der populärsten Gitarrensoli. Zweistimmig gespielt von Don Felder und Joe Walsh. Wenn das Lied überhaupt eine Schwäche hat, dann die, dass es mitten während des Solos ausblendet.

Diese ungewöhnliche Mischung hatte mit den Eagles, wie man sie bisher kannte, nur noch wenig gemeinsam. Der bisher so allgegenwärtige Country-Rock verließ die Band mit dem Ausstieg des Gitarristen Bernie Leadon. Joe Walsh ersetzte ihn. Hier reitet kein einsamer Cowboy mehr in den Sonnenuntergang. Viel mehr stellt das Album eine Abrechnung mit dem amerikanischen Traum dar und nimmt vorweg, was auf die Band selbst nach ihrem größten Erfolg, der sich 32 Millionen Mal verkaufte, zukommen und sie zerstören sollte. Bereits nach dem reichlich mittelprächtigen Nachfolger "The Long Run" - von dem Musikfachblatt Hörzu mit "überflüssig" bewertet - war erst einmal Schluss, bis 1994 die Hölle wieder zufror.

Die eigentliche Grundkomposition von "Hotel California" stammt von Gitarrist Don Felder. Als die Band bei den Studioaufnahmen weder Intro noch das Solo hinbekam und das Demo nicht mehr zur Hand hatte, rief er bei seiner Haushälterin in Los Angeles an. Diese suchte das Tape heraus und spielte ihm dieses übers Telefon vor. In seiner Biografie lässt er kein gutes Haar an den beiden Bandleadern Frey und Henley, bezeichnet sie als Diktatoren. Als er und Frey sich gegenseitig auf der Bühne Schläge androhten ("Only three more songs until I kick your ass, pal." - "I'm gonna kick your ass when we get off the stage.") und dies hinter der Bühne beinahe in die Tat umsetzten, war dies das vorläufige Ende der Band.

Einen Titel wie "Hotel California" schreibt man natürlich nur einmal im Leben, und so überragt das Stück das ganze Album wie ein Monolith. Vielleicht besteht die größte Leistung der Eagles darin, dass die restlichen Tracks trotzdem ein Leben entwickeln, funktionieren und nicht einfach in dieser übergroßen Nachbarschaft verblassen. Acht Monate arbeitete die Band zusammen mit Produzent Bill Szymczyk in den Criteria Studios in Miami an ihnen. Für ihn entscheiden sie sich, da ihr bisheriger Stammproduzent Glyn Johns nicht zu der neuen rockorientierten Ausrichtung der Eagles passte. Den Wunsch nach einem massigeren Drumsound über eigene Mikros konterte er mit: "Wenn du eine lautere Bassdrum haben möchtest, tritt härter auf die Fußmaschine." Worauf Henley erwiderte: "Ich trete so hart ich kann, aber ich bin nicht John Bonham!"

Dabei teilten sie sich das Studio mit Black Sabbath, die gerade an "Technical Ecstasy" arbeiteten. "Bevor wir überhaupt anfangen konnten, irgendetwas aufzunehmen, mussten wir erst einmal das ganze Koks aus dem Mischpult kratzen", erinnert sich deren Bassist Geezer Butler. "Ich schätze, die haben bestimmt ein Pfund Kokain in Mischer zurückgelassen." Sabbath bedankten sich für das Gutzi, indem sie im Nebenraum so viel Lärm machten, dass die Eagles ihre Aufnahmen immer wieder unterbrechen und neu starten mussten.

Besonders häufig geschah dies beim Abschlusslied "The Last Resort", einer gallenbitteren und nihilistischen Abrechnung mit der Menschheit. Ein resignierter Blick auf die Gier nach Geld und Macht, auf Rassismus, Missionarismus und Umweltverschmutzung. Die Einsicht, dass der Mensch letztendlich alles Schöne zerstört, das er in die Finger bekommt. Darum herum ein elegisches Lied, das als Ballade startet und sich zu einem epischen Opus hoch schraubt, vorgetragen von einem zunehmend die Hoffnung verlierenden Henley. "We satisfy our endless needs and justify our bloody deeds / In the name of destiny and in the name of God / … / And they called it Paradise / I don't know why."

Um die Schönheit und den Sinn hinter "Wasted Time (Reprise)" zu verstehen, muss man sich in eine Zeit zurückversetzten, in der man Alben nicht am Stück durchhören konnte. In denen sie, egal ob auf Vinyl oder auf Kassette, in zwei Seiten aufgeteilt waren. Die erste Seite endete mit dem bittersüßen Schmachtfetzen "Wasted Time", in dem Henley die Trennung von seiner Freundin Loree Rodkin verarbeitete. Während er mit seiner brüchigen Stimme leidet, spielt die Band ihre eigene Version von Philly-Soul. Die von Jim Ed Norman arrangierte Streicher-Reprise brachte einen auf der zweiten Seite mit dem Aufgreifen der Melodie wieder elegant zurück ins Album. Dieser Effekt ging mit dem Aufkommen von CDs und letztendlich Streams komplett verloren.

Dem entgegen steht der staubig trockene Rock-Song "Life In The Fast Lane", der auf einem Riff von Joe Walsh basiert. Dieses warf er beim Proben einfach in einen Jam, und alle anderen sprangen sofort darauf an. Der Titel wiederum stammt von einer kleinen Spritztour, die Glen Frey mit seinem Dealer "The Count" auf dem Freeway unternahm. Als Frey diesen bat, doch etwas langsamer zu fahren, war seine Antwort: "What do you mean? It's life in the fast lane!" Um diesen Titel herum baute der Sänger die Geschichte eines Paares, das mit seinem exzessiven Lebensstil schnurgeradeaus auf den Abgrund zusteuert.

Der Refrain von "New Kid In Town" stammt vom Country-Sänger J. D. Souther. Frey, der die Hauptrolle in dem Stück übernimmt, und Henley bastelten das restliche Umfeld. Walshs Fender Rhodes-Piano gibt die Stimmung vor, über die sich das mit einem Grammy ausgezeichnete Gesangsarrangement ausbreitet. Eine melodiöse Geschichte über die Vergänglichkeit von Liebe und Ruhm. Auch an "Victim Of Love" arbeitete Souther mit. Eigentlich sollte Felder die Leadvocals des live im Studio eingespielten Rocksongs übernehmen. Doch Henley drängte ihn mit der Begründung beiseite, er komme "einfach nicht an die Bandstandards heran". Was für ein Herzchen.

Mit "Hotel California" gelang den Eagles 1976 ein heute tief in der Pop-Kultur verankertes Meisterstück. Egal ob man ihm nun verfallen ist oder ob man es lieber mit dem Dude aus "The Big Lebowski" hält ("Come on, man. I had a rough night and I hate the fuckin' Eagles, man!"): "You can check out any time you like, but you can never leave."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Hotel California
  2. 2. New Kid In Town
  3. 3. Life In The Fast Lane
  4. 4. Wasted Time
  5. 5. Wasted Time (Reprise)
  6. 6. Victim Of Love
  7. 7. Pretty Maids All In A Row
  8. 8. Try And Love Again
  9. 9. The Last Resort

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8 Kommentare mit 11 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    Das war ja mal an der Zeit. Grosses Kino, der Titelsong ist ohnehin ein Monument, aber auch The last Resort, New Kid in Town oder Wasted Time sind tolle Tracks. Damit haben die Eagles die Messlatte dermassen hoch gesetzt, dass sie die beim Nachfolger gar nicht erreichen konnten. Ein Album, das ich mir immer wieder gerne anhöre.

  • Vor 4 Jahren

    I had a rough night and I hate the fuckin' Eagles, man!

  • Vor 4 Jahren

    Wenn man sich Hotel California, und den gesamten Rest des Eagles Songkatalogs anhört kommt willkürlich, zumidnest bei mir die Frage auf: ist der Song überhaupt von den Eagles? Denn der Rest stinkt dermaßen ab, dass man sich diese Frage schon wirklich stellen kann. Wie läppsch klingt beispielsweise New Kid in Town gegen das Feuerwerk. OK, der ein oder andere wird dann "we used to Know" von Jethro Tull erwähnen; denn dieser enthält im Grunde die schöne Strophenmelodie von Hotel California, aber der starke Refrain, der Aufbau als Reggae, die grandios auskomponierten Soli, .... all das traue ich, wenn ich mir den Rest anhöre, den Eagles nicht zu. Wenn man sich dazu den Text zu Gemüte führt, steht zu vermuten, dass da andere Dinge im Hintergrund gelaufen sind. Vielleicht geht es ja anderen hier auch so?!

    • Vor 4 Jahren

      Ja, "Hotel California" ist schon der Standoutrack aber die haben einige Songs, die für sich gesehen auch grandios sind, das hier beschriebene Album hat einige davon am Start. Und jetzt nimm den Aluhut ab.

    • Vor 4 Jahren

      Du hast Recht Hotel California ist natürlich der Übertrack aber das das Lied nicht von den Eagles sein soll kann ich mir gar nicht vorstellen.

    • Vor 4 Jahren

      Ist schon richtig. Das ist der Über-Hit der Eagles.
      Aber nachdem ich mich gründlich an Hotel California überhört habe, weil es einfach 1000 Mal zu oft im Radio lief und läuft, musste man mich alten Tull Fan mit der Nase drauf stoßen: We used to know von Stand Up! Sogar das Gitarrensolo ist ähnlich. Den Prozess hätte Ian Anderson locker gewonnen.

    • Vor 4 Jahren

      @Garion, gut möglich, dass Tull während der Tournee wo sie wutk spielten (wo die Eagles deren Vorgruppe waren) das Lied schon so variiert hatten, dass es schon die Vorstufe zum heutigen HC war. Ebenso dass Martin Barre das/die Soli ebenfalls mit jedem Auftritt verfeinert hatten, dass es schon alle Melodien des heutigen HC nahezu enthielt. Zutrauen würde ich es Tull, genauso wie ich es den Eagles nicht zutraue, weil einfach der Rest der Eagles zwei klassen fader ist. Und we used to know bei Tull einfach nur ein gutes aus einer endlosen Reihe guter und sehr guter Lieder ist.