laut.de-Kritik

Musik wie ein Lego-Set: ohne Überraschungen.

Review von

Edward war Schuld, meint Ed(ward) Sheeran. Ja klar, wer auch sonst. Aber nicht er selbst, sondern Edward Elgar. Der Komponist aus Worcester bei Birmingham widmete 14 verschiedenen Freunden je ein Stück, 1899 war das. Coole Idee, fand Sheeran, das könnte er selbst für "Autumn Variations" so umsetzen: Wenn man viele Freund*innen hat, deren Leben ereignisreiche Wendungen nimmt, Trennungen, Selbstzweifel, Erkennen von Lebenslügen und unerfüllten Plänen, Krankheit (bei seiner eigenen Ehefrau) und Todesfällen im Freundeskreis. Wenn es Trauriges und Schwieriges zu verarbeiten gibt, das sich im Laufe eines klimagewandelten heißen Sommers angestaut hat. Jahrgang 2022 meint er damit vor allem.

"Nach der Sommerhitze, beruhigte sich alles entweder, regelte sich irgendwie, brach auseinander, spitzte sich als Krise zu oder implodierte", fasst der 32-Jährige das Leben seiner Alterskohorte zusammen. Genügend Stoff für eine reichhaltige Konzept-Platte. Den ihm Nahestehenden widmet Ed natürlich keine Orchester-Instrumentals, sondern mitleidige Texte. Ein paar bezieht er offiziell auf sich und seine junge Family. Überprüfen lassen sich die privaten Referenzen nicht.

Kein Tönchen drang vorab von diesem Album nach draußen - Verzicht auf Singles, Videos. Wie bei "Subtract" kam Aaron Dessner von The National mit an Bord. Das Album entstand in einem Nonstop-Rutsch und kreativen Superflow. Die Liedtitel sind alle recht kurz: "Blue", "Page", "Punchline", "Spring" - logisch, geht ja um den Herbst -, scheinbar Positives wie "Amazing" und "Magical", Englisches wie "England" und Amerikanisches wie "American Town", und, fast schon ein Politikum heute: "Plastic Bag". Da hat die Plastiktüte aber allenfalls die Funktion einer misslungenen Metapher, nämlich dass man Liebe nicht einfach so aus einer Plastiktüte ziehen könne.

Bei einem raren Vorgeschmack von 'Amazon Music Live' zeigt der Mitschnitt eines US-Konzerts eine Woche vorm Album-Release, dass es live auch ohne penetrante Synth-Programmierung geht, und mit mehr gesanglichem Ausdruck. Der Self Care-Text übers Lächeln und Weinen, über Meditation und Stroboskop-Licht samstagnachts scheint tieferen Sinn zu verbergen und zeigt, wie sich jemand im Alltags-Burn-Out an jeden eskapistischen Strohhalm klammert. Leider ist die Musik von "Plastic Bag" dann in der Studiofassung allzu vorhersehbar und ein bisschen belanglos - aber sogar noch einer der besten Tracks. Folktronic heißt hier statt einer Fusion: Summe aus hintereinander folgenden Folk- und Electronic-Abschnitten im Lied. Das hinterlässt beim Hören jedoch einen schalen Nachgeschmack. Musik wie ein Lego-Set.

Das Album ist okay, tut nicht weh, krankt aber daran, dass etwas nicht automatisch dadurch schon gut wird, dass es Potenzial hat und gute Absichten hegt. Am meisten punktet auch nicht, wer derb und volksnah auf die Pauke kloppt, zum Beispiel durch suizidale Andeutungen: "What the fuck, am I still here breathing?" Da jodeln die Leute live zwar ganz ergriffen, aber das ist kein Qualitäts-Indiz per se. Genau anders herum: Armselig, wer nur durch so eine Zeile lauten Beifall erntet.

Von der musikalischen Seite her verschenkt Sheeran fast alle Chancen, seiner tollen Idee von 1899 eine würdige, spannende Umsetzung angedeihen zu lassen. Das gequält-hymnische "Amazing" platziert bereits gegen Anfang eine mediokre Nummer, "Midnight" in der Mitte mäandert als Mumford & Sons-Aufguss zum Gähnen, "Punchline" gegen Ende ist auch wieder völlig durchschnittlich, und "Head > Heels" ein gemächlich pulsierendes Finale ohne jeglichen innovativen Impuls, ohne Ausstrahlung, Musik als dekorative Untermalung von Worten, und hey: Was ist denn an Sheeran als Poet so toll, außer dass man seine plakativen Loser-Stories zum Beispiel über innere Dämonen, Selbstdiagnose Depression, Selbstdiagnose Ungeduld sofort checkt? Und Sätze wie "Ich würde beten, aber ich glaub nicht dran", "Schweigen ist nicht Gold, du weißt, es ist nur blau" und "Das Leben ist nicht, was es zu zu sein scheint' - die atmen Stammtisch-Dunst.

"The Day I Was Born" ist so eine Loser-Nummer. Jammert über jemanden, der seinen Geburtstag nicht richtig feiern kann, "another birthday alone" und "the same excuses from every friend". Und?! Ich feiere meinen Geburtstag seit Jahren nicht, seit letztes Mal alle ihr Smartphone zur Begrüßung auf den Tisch gelegt, dann den ganzen Abend Nachrichten getippt haben. Eddy, da verpasste nix! Außerdem thematisierst du ungefähr 14 Freund*innen - warum connectest du die nicht einfach untereinander, statt sie zu bemitleiden?

Drei Nummern heben sich vom allgemeinen Gleichklang des Albums ein bisschen ab: "That's On Me" reißt als lebendiges Lied mit pfiffiger Melodie mit. "When Will I Be Alright" holt mal ein Cello mit rein, macht Folk folkiger und holziger. "American Town" über ein "English girl in an American Town" pflegt mal mehr rhythmischen Vibe und eine Instrumentierung mit Konturen, einprägsamen Soundeffekten und verlässt sich nicht ganz alleine auf das einzige nennenswerte Pfund, mit dem dieser Singer/Songwriter effektiv wuchern kann: seine helle, klare, unschuldige, geschmeidige Stimme. Die leider in "Blue" wie ein Kastrat klingt und in "The Day I Was Born" irritierend unsicher.

"American Town" hat immerhin einen vielschichtigeren Inhalt über Verliebte, die alles um sich herum ausblenden und "lost in love" Comedys schauen, deren Enden sie verpassen, weil sie nur Augen füreinander haben und dazu chinesisches Fast Food mampfen. Er verfällt wehrlos ihrem Parfüm, doch mittendrin findet sich auf einmal so eine bissige Kritik wie "you're useless with your phone". Ein rundum gelungenes und wunderschönes Stück gibt's dann doch, "England", und es macht das vernebelt-lahme "Spring", das öde "Magical" und das schwerfällige "Page" wett.

Unbestritten, mit Mahalia angefangen, gibt's so viele Menschen, die durch Ed einen Zugang zu Musik fanden, sei es Musikschaffende oder hörende Fans. Aber so neugierig die Entstehungsgeschichte dieser Platte macht, so wenig löst sie sich von teflonhaften, unangreifbaren Oberflächen und formelhaftem Mainstream. "Autumn Variations" ist eine nette Ideensammlung, die nicht richtig zu Ende komponiert, nicht kreativ getextet und nicht interessant eingespielt wurde. Sie hat so viel Biss wie ein Chris Brown-Album, alles Bekenntnis-Pop von Säulenheiligen.

Der Herbst spielte schon lang bei Sheeran mit rein, hört man die Melancholie seines Gesamtwerks, sieht man den Namen seines Labels, Gingerbread Man (Gewürzbrotmännchen). "Ich hab das Gefühl, er fing das Feeling des Herbstes klanglich so wunderschön ein", sagt Ed über seinen Arbeitspartner Aaron, "und ich hoffe, dass jeder das lieben wird wie ich." Naja. Er hat es schon herbstlich gemacht, stimmt. Aber legt man z.B. "This Is My Truth Tell Me Yours" als Maßstab eines vollendeten Herbst-Soundtracks an, besteht "Autumn Variations" vor allem aus geblähter Herbststürmchen-Luft.

Trackliste

  1. 1. Magical
  2. 2. England
  3. 3. Amazing
  4. 4. Plastic Bag
  5. 5. Blue
  6. 6. American Town
  7. 7. That's On Me
  8. 8. Page
  9. 9. Midnight
  10. 10. Spring
  11. 11. Punchline
  12. 12. When Will I Be Alright
  13. 13. The Day I Was Born
  14. 14. Head > Heels

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4 Kommentare mit 7 Antworten

  • Vor 6 Monaten

    Eines der rätselhaftesten Phänomene der Neuzeit, wie es da draußen vereinzelt Menschen geben kann, die sich freiwillig Ed Sheeran anhören.

    • Vor 6 Monaten

      Ist halt DIE Konsens-Musik für Normies schlechthin. Und ich glaube, die Mehrheit der Menschen interessiert sich nicht wirklich für Musik an sich und will nur, dass sie einen bestimmten Zweck erfüllt: Im Hintergrund laufen.

      Und Ed Sheeran hatte halt das Glück, dass er irgendwann ein fester Name im Radio wurde und ein paar seiner Lieder (A-Team, Thinking Out Loud, Shape of You...) einen Nerv in der breiten Masse getroffen haben, wovon er bis heute zehrt. Es hätte meiner Meinung nach aber auch jeden anderen Singer/Songwriter treffen können, Talente gibt es genug.

    • Vor 6 Monaten

      Durch sein ungeiles Aussehen konnte man halt so DSDS-mäßig zudem ne dolle Geschichte im eigenen Kopp drumrumbauen, wie wenig oberflächlich und wie doll musikfixiert man doch sei. Kotz.

    • Vor 6 Monaten

      Das war definitiv eines seiner Erfolgsmerkmale. Seit diesen Sendungen wurden 99% der Sänger darauf getrimmt, auf exakt dieselbe Art und Weise vorzutragen - ungefähr wie ein singendes Spanferkel. Er hat also quasi kein Alleinstellungsmerkmal mit seiner Stimme. Sein Äußeres wird also besonders wichtig sein.

  • Vor 6 Monaten

    Wenn schon Lego-Vergleiche, dann so: Das Hören schmerzt wie das barfüßige Treten auf Legosteine.

  • Vor 6 Monaten

    Wetter meints nicht so gut mit dem Ed, die 27 Grad da draussen taugen aber auch nicht zum Opeth hören. Immerhin ist Steven Wilson genug herbstlos auf seinem neuen Release…

  • Vor 6 Monaten

    Weiß ja nicht, aber seit seinem herrlich selbstironischen Auftritt in diesem Beatlesfilm „Yesterday“ mag ich den irgendwie.
    Klar, es ist jetzt nicht die anspruchsvollste Musik aber da gibt es schlimmeres.