laut.de-Kritik
In 35 Jahren vom Zank- zum Reichsapfel.
Review von Ulf Kubanke"Gott hat sich erschossen, ein Dachgeschoss wird ausgebaut!" Die "Greatest Hits" der Einstürzenden Neubauten? Das muss ein Scherz sein. Zumindest ein halber: Keine Kombo erscheint ungeeigneter für so ein Format, entsprechend ironisch ist der Titel dieser Zusammenstellung gemeint. Hier geht es nicht um Singles oder Kommerztracks. Stattdessen offerieren sie eine Auswahl persönlicher Lieblingslieder und einen gelungenen neuen Mix von "Haus Der Lüge". "Alles nur künftige Ruinen"? Nein, die Auswahl klingt zeitlos.
Vom Zank- zum Reichsapfel in 35 Jahren: Die zurückgelegte Wegstrecke ist für eine deutsche Band einmalig. Zunächst nahm man die Neubauten lediglich als nihilistische Kuriosität wahr, als subversive Bürgerschrecksekunde ohne Plan oder Zukunft. Seitdem ist viel passiert. Mittlerweile liegt ihnen sogar das Goethe-Institut zu Füßen. Sie sind international hofiertes Aushängeschild des Landes. Zurecht gelten die Neubauten ebenso als Zellkern der weltweit wegweisenden 80er Berliner Alternative-Szene, ohne die womöglich auch eine Größe wie Nick Cave seinen Weg nicht so einfach gefunden hätte.
Die Gründe für so viel Lorbeer entschlüsseln die vorliegenden Stücke hervorragend. EN sprechen nämlich seit jeher gleichermaßen Herz, Hirn und Bauch an. Von instinktgesteuerten Krachteppich über archaische Rhythmen bis hin zu filigranen oder sanften Songs reicht die breite Klangpalette. Hinzu treten Blixa Bargelds essentielle Texte, die sich im Laufe der Jahrzehnte von entwaffnender Direktheit hin zu subtiler Bildhaftigkeit entwickelten. Sie gehören neben wenigen anderen Großmeistern wie Reiser, Ratz oder Regener zum Besten und Intelligentesten, das die deutsche Popkultur je hervorbrachte. Jeder Sapiosexuelle muss hier einfach zugreifen.
Kein Wunder, dass die Kollabo- und Fanriege ebenfalls von Peter Zadek oder Heiner Müller bis hin zu Quentin Tarantino reicht. Einem Kleinod wie etwa "The Garden" kann man auch kaum widerstehen. Es startet als hypnotischer Chanson und mündet zum Schluss in einer Arvo Pärt-ähnlichen Passage, die ohrenscheinlich recht viel von dessen Standardwerk "Cantus Im Memoriam Bejamin Britten" lernte. Im Gegensatz dazu ist "Let's Do It A Da Da" für ihre Verhältnisse eine fast schon unverschämt eingängige Rocknummer, ebenso ein Lehrstück in Aufbau und Dramaturgie.
Und wo gehts hier zu Baustelle? Gar nicht! Die Bohrmaschine bleibt aus. Das irritiert zunächst. Altgediente Neubautianer und Neuvizen müssen auf Klopper wie "Steh Auf Berlin", "Yü-Gung (Fütter Mein Ego)" oder "Der Tod Ist Ein Dandy" verzichten. Weit und breit sind keine Industrial-berauschten "neuen gold'nen Horden" in Sicht. Einzig "der goldene Schnitt durch die Kehle" deutet in den Eruptionen des Live-Bringers "Redukt" ihre ungezähmte Urkraft an. Alles vor "Haus Der Lüge" (1989) erschienene findet keinerlei Berücksichtigung. Der Schwerpunkt liegt auf der zweiten Halbzeit.
Das erscheint auf den ersten Blick etwas schade und durchaus riskant. "Doch keine Schönheit ohne Gefahr!" Am Stück genossen, präsentieren diese 15 Lieder dafür ungewohnt deutlich die songwriterisch orientierte, teils sehr sanfte Seite. Ein durchaus berechtigter Schachzug: Medial ist der ebenso unbegründete wie langlebige Irrtum, die Neubauten seien eine grobmotorische Punktruppe, noch immer nicht komplett tot.
Besonders die folgenden drei Tracks eignen sich als romantische Anspieltipps für Neubauten-Skeptiker hervorragend:
Das minimal gehaltene, samtig pulsierende "Sabrina" öffnet eine Tür zu inneren Emotionen. Nebenbei entpuppt es sich spätestens nach dem zweiten Abspielen als angenehmer Ohrwurm, den man - " ...your colour I wish" - tagelang nicht loswird.
Hört man danach die mitternachtsblaue Ballade "Nagorny Karabach", bricht ihr Bann den Nachhall: ein intensiver Singer/Songwriter-Moment und eine ihrer stärksten Nummern im Katalog.
"Was von mir noch übrig ist, hat nur mit dir zu tun." "Susej" komplettiert das Trio und lockt mit hintergründiger Percussion plus angedeutetem Gospel. "Lass uns nach Hause gehen."
2 Kommentare
It is a starless winternight's tale. It suits them well.... IT is that black, it IS that black, it is THAT black, it is that BLACK!
Zweites richtiges Stück der Reihenfolge auf dem ersten Mixtape, dass ich nach dem Tod meiner Lebensgefährtin letztes Jahr zusammenstellen konnte. Dem ersten "musikalischen Lebenszeichen" von mir überhaupt nach dieser Geschichte. It suits her well...
Zur Scheibe: Der "Ich habe bereits ALLES!"-Fan bleibt bei einer Neuaufnahme versus 14 Albentracks ein wenig außen vor bei diesem Produkt, was aber nicht weiter schlimm ist - stelle mir einfach eine "Neubauten spielen ihre eigenen Lieblingsstücke"-Playlist zusammen.
Sicher eine der Bands, denen ich dieses (wenn auch leicht variierte) Format (gerade zu dieser Jahreszeit) niemals zugetraut hätte und ihnen dennoch sofort verzeihen kann, weil so viele Menschen (speziell aus Deutschland) noch immer nicht den Einfluss dieser Band auf unsere Musik- und Textkultur korrekt einschätzen können.
Normalerweise werden doch lieblose bestof Platten bei laut.de abgestraft. Alles tolle Lieder, keine Frage. Aber bisschen schwach find ichs trotzdem.