laut.de-Kritik
Einmal Neuschwanstein und nie mehr zurück.
Review von Daniel Straub1986 war das Jahr, in dem Ex-Depeche Mode-Songwriter Vince Clark nach dem kurzlebigen Projekt Yazoo endlich wieder etwas von sich hören ließ. Gitarre spielend tanzte er im Video zu "Sometimes" zwischen allerlei zum Trocknen auf der Leine hängender Wäsche über die Dachterrasse einer Hochhauskulisse. Primärer Blickfang jedoch war ein schüchterner junger Mann namens Andy Bell, der sich noch ein wenig vorsichtig in der Rolle des Sängers ausprobierte.
2003 und rund 35 bebilderte Singles später gehören Erasure längst zu den Großen im Popgeschäft. Aus dem einstmals zurückhaltenden Bell ist ein extrovertierter Entertainer par excellence geworden, der sich im Licht der Scheinwerfer sichtlich wohl fühlt. Das freut auch Vince Clark, der sich am liebsten hinter seinen Synthies versteckt und Bell die Show machen lässt. Mit allen Videoclips ihrer Karriere plus reichlich Interviews, Livemitschnitte und Bonusmaterial zeichnet die Doppel-DVD "Hits! The Videos" ein umfassendes Bild der Synthie-Popper, dem bestimmt nicht nur Fanherzen positive Seiten abgewinnen können.
Den chronologischen Blick zurück in die Bandgeschichte eröffnet der erste Silberling, auf dem sich alle 35 Erasure-Videos vom Debüt mit Wild-West-Romantik ("Who Needs Love (Like That)") 1985 bis hin zur letzten Singleauskopplung, dem Steve Harley-Cover "Make Me Smile (Come Up And See Me)" aus dem vergangenen Jahr. Dazwischen, wie an einer Schnur aufgereiht, finden sich Popperlen aus knapp zwanzig Jahren Bandgeschichte wieder. Dem Medium sei dank, erfreut "Hits! The Videos" aber nicht nur mit eingängigen Synthie-Pop-Stücken, sondern erzählt die Geschichte von Erasure auch in Bildern. So darf man sich an allerlei modischen Kuriositäten und Extravaganzen von Sänger Andy Bell erfreuen, über die besser der wohlmeinende Mantel der Geschichte ausgebreitet worden wäre.
Einmal darauf befragt, ob er mit seinem Outfit gerne auch mal die ästhetischen Mauern in den Köpfen seiner Fans zum Einsturz bringe möchte, erklärt der Brite ganz unverhohlen: "I like to be the first one who's doing the clown ... if you have something that people might find distasteful. Show it to them straight away and let them go over it." Eine Maxime, der Andy Bell nicht nur in den Erasure-Videos die Treue gehalten hat, sondern auch bei den zahlreichen Liveauftritten, die oftmals mehr mit der barocken Ästhetik eines Musicals denn mit der eines gewöhnlichen Popkonzertes gemein hatten.
Wer es nie zu einem Konzert von Andy und Vince geschafft hat, dem sei die zweite CD innigst ans Herz gelegt. Neben einem Auftritt bei "Top Of The Pops" geben die Jungs mit fünf Live-Mitschnitten Einblick in die Wandlungsfähigkeit ihrer Bühnenpräsentation, die immer wieder aufs Neue überrascht. Eher für die Die-Hard-Fraktion unter den Fans sind das akustische "Sono Luminus" oder die US-Version von "In My Arms", deren Rapunzel-Plot den in europäischen Breiten gesendeten Zusammenschnitt von Live und Studio-Footage mühelos hinter sich lässt.
Schließlich runden mehr als zwei Stunden an 'docomentaries', in denen Vince und Andy häufig zu Wort kommen, das gelungene Erasure-Portrait ab. Kennt man die Videos zumeist aus dem Fernsehen, so vermitteln die Dokus ein sehr persönliches Bild der Band. Mal folgt man den beiden zu einem Fotoshooting vor die beeindruckende Kulisse von Neuschwanstein, mal dient ein Hamburger U-Bahnhof als schlichtes Setting für die Interviews. Was stets mit anklingt, ist jedoch der große Respekt, mit dem sich Andy Bell und Vince Clark begegnen, auf dem die gesamte Karriere von Erasure fußt.
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