24. Oktober 2000

"Heute ist Vince die Frau"

Interview geführt von

Drei Jahre lang war es ruhig um Erasure. Zwar tauchte Vince Clarke mit dem Ambient-Projekt "Pretentious" kurzzeitig aus der Versenkung auf, doch auch im Trubel des medial aufgebauschten 80s-Revivals hielten es die Vorreiter des Synthie-Pops mit britischer Reserviertheit. Dieser Tage erscheint nun das neunte Studio-Werk des symphatischen Duos und infolge dessen luden sie in Hamburg zum Plausch.

LAUT: Euer neues Album "Loveboat" klingt deutlich experimentierfreudiger und kantiger als seine Vorgänger. Hattet Ihr bereits vor den Aufnahmen konkrete Vorstellungen, wie das Ergebnis auszusehen hat, oder ist Produzent Flood maßgeblich dafür verantwortlich?

Vince: Also, es war kein bewusster Schritt. Die Songs sind wie seit jeher auf der Gitarre und am Klavier entstanden und auf Tape aufgezeichnet worden. Ich würde auch nicht sagen, dass wir Flood absichtlich verpflichtet haben, um unseren Sound härter oder kantiger zu gestalten. Aber er produziert seit Jahren viele Rockbands, vor allem in Amerika, was sicherlich auch auf uns abfärbte.

LAUT: Ihr habt ja schon in Euren Anfängen Mitte der 80er mit Flood gearbeitet. Wie war die Stimmung nach so langer Zeit?

Andy: Es war toll, wieder mit ihm zu arbeiten. Flood ist im Studio kein bequemer Zeitgenosse, er will die Aufnahmen voran treiben. Er brachte mich dazu, Gesangsspuren sowohl eine Oktave höher als auch tiefer einzusingen, so dass wir letztlich drei Möglichkeiten zur Auswahl hatten. Mein hoher Einstieg bei "Purchance To Dream" war beispielsweise ursprünglich als Backing Vocal vorgesehen. Flood überrascht dich immer wieder. Damals bei unseren ersten Plattenaufnahmen mit ihm, war ich total schüchtern. Die ersten zwei Jahre habe ich praktisch kein Wort gesagt, ich saß einfach im Studio rum.

LAUT: Die dreijährige Pause zwischen "Cowboy" und "Loveboat" war die längste in Eurer Karriere.

Andy: Nach der "Cowboy"-Tour war die Luft erstmal raus und wir brauchten eine Pause. Ich persönlich fand unsere "Tiny"-Tour von 1995 viel besser. Doch weil die so gut gelaufen ist, stürzten sich die Promoter mit "Cowboy" auf die großen Hallen, in der Hoffnung, dass wir auch solche Venues ausverkaufen. Das Album lief aber leider nicht so gut, wie wir dachten. So hockten wir dann in Südost-Asien oder Südafrika und verloren zunehmend die Lust an allem.

Nach etwa einem Jahr begannen wir dann wieder mit dem Songschreiben und leiteten anschließend alles in die Wege. Vince war ja in der Zwischenzeit nicht untätig und Flood ist natürlich auch nicht allzeit verfügbar.

LAUT: Was hat Euch bezüglich des neuen Materials inspiriert?

Vince: Was das Feeling der Platte angeht, war die einzige Inspiration eine Band namens Mercury Rev, die ich zu der Zeit andauernd hörte. Die Songs klingen alle ein bisschen altmodisch und schräg, aber gleichzeitig sehr atmosphärisch. Ich dachte, es wäre toll, ein wenig in diese Richtung zu gehen, das Ganze etwas düsterer zu gestalten.

Andy: Während der Aufnahmen in meinem Haus in Spanien habe ich ständig die CDs in meiner Jukebox gewechselt, da sind wohl an die 100 Stück drin, jedenfalls brauchte ich fast einen Monat, um alle mal auszuwechseln. Wir haben dort eine Menge Sachen gehört, aber das ist dann eher Vergnügen und Ablenkung vom Arbeiten.

LAUT: Gibt es Pläne für eine Tournee?

Andy: Nicht für dieses Album, es erfordert einfach zuviel Arbeit. Wenn wir eine Tournee geplant hätten, würden wir heute nicht hier sitzen.

Vince: Die "Cowboy"-Tour sitzt uns immer noch in den Knochen. Wir werden in einigen Fernsehshows auftreten und überlegen uns, einige Akustik-Showcases zu spielen.

Andy: Vielleicht auch in Berlin.

LAUT: Wisst Ihr schon, welche Single nach "Freedom" erscheinen wird?

Andy: Wir hoffen, dass es "Alien" wird.

LAUT: Habt Ihr nicht vorderstes Stimmrecht?

Andy: Es gibt ein Komitee mit mehreren Leuten vom Label, Programmchefs vom Radio und so, die da mit entscheiden. Wir müssen in dieser Sache für die Ideen anderer offen sein. Und außerdem ist es dann nicht unser Fehler, wenn es schief geht.

LAUT: Andy, du hast Erasure früher einmal mit der Metapher einer gut funktionierenden Ehe umschrieben, in der du die gute Ehefrau bist. Ist das das Geheimnis eures Erfolges?

Andy: So würde ich das nicht mehr bezeichnen. Zwischen uns liegt stille Bewunderung und großer Respekt für den anderen. Und Vince ist heute die Frau. (lacht)

Vince: Ja, ich kümmere mich um die Hausarbeiten, die so anfallen: abwaschen, Essen kochen, ... (alle lachen)

LAUT: Stichwort Homosexualität. Andy, du hast dich in den 80ern schon sehr früh geoutet, was für die damalige Zeit ziemlich ungewöhnlich war. Hast du dich immer wohl dabei gefühlt, in einer Band zu spielen, die die homosexuelle Community als ihr Eigentum betrachtet?

Andy: Das war nie wirklich ein Thema. In erster Linie war ich damals froh, Vinces Unterstützung in dieser Sache zu haben. Der erste Trubel kam ja auf, als Jimmy [Somerville] sich zur Homosexualität bekannte, da gab es dann eine ziemliche Bewegung in der Szene und das war schon ein tolles Gefühl. Diese Aufregung hat sich mittlerweile längst gelegt. Wenn ich heute gefragt werde, ob es die Pet Shop Boys waren oder ich, die sich zuerst zur Homosexualität bekannten, dann muss ich lachen. Denn es macht keinen Sinn zu sagen: hey, ich bin am längsten schwul. (alle lachen)

Aber nochmal zu deiner Frage: man bekommt natürlich ein Stigma aufgesetzt. Wenn die Presse dann schreibt "Erasure sind eine Schwulenband", denken automatisch viele, dass unser Publikum nur aus schwulen oder lesbischen Menschen besteht, verstehst du? Aber das ist natürlich totaler Quatsch. Zumal Vince ja auch hetero ist.

LAUT: Bis heute sind Gerüchte über eine Yazoo-Reunion bzw. ein Duett mit Alison Moyet im Umlauf. Habt Ihr noch Kontakt zu ihr?

Andy: Ja, vor etwa acht Jahren hätte es beinahe ein Duett gegeben. Vince und ich haben sie zuhause besucht, es war auch schon eine Nummer in Planung, aber irgendwie hat es dann doch nicht geklappt und sie hat den Song selbst eingesungen. Vielleicht werden wir in Zukunft einmal mit ihr auf der Bühne stehen.

LAUT: Vince, hast du noch Kontakt zu deinen alten Kumpels von Depeche Mode?

Vince: Nein!

LAUT: Bleiben wir in der Vergangenheit: Gibt es einen Song, von dem Ihr heute wünschtet, er wäre besser nie aufgenommen worden?

Vince: Ja, da gibt es vielleicht schon einige. Der Punkt ist aber: man kann nicht sagen "ich wünschte, ich hätte dies oder das nie geschrieben", denn es ist alles Teil deiner Geschichte. Hätten wir das eine nicht gemacht, wäre unsere Zukunft mit Sicherheit anders verlaufen. Musik zu machen ist ein ständiger Lernprozess, da gibt es kein Bedauern.

Andy: Ich denke, eine unserer besten Sachen war die Weihnachtssingle "Crackers International".

LAUT: Wie steht Ihr zur gegenwärtigen Musikszene in England?

Andy: (stöhnt) Es ist traurig. Immer wenn die Presse etwas aufgreift und es als neuen Hype tituliert, ist das Ding schon gelaufen. Zuletzt sprachen alle über ein 80s-Revival, dabei gab es gar keins. Es wurde nur versucht, eines zu kreieren, weil manche Bands mit alten Sachen nochmal Kohle machen wollten. Gegen ein 30s-Revival hätte ich allerdings nichts einzuwenden. (lacht) Diese ganzen Boybands sind auch einfach nur schlecht.

LAUT: Andy, in einer Presseerklärung zum neuen Album wirst du seltsamerweise mit der dänischen Teenieband Aqua in Verbindung gebracht.

Andy: Darüber habe ich mir auch den Kopf zerbrochen. Ich meine mich zu erinnern, mit ihnen in Dänemark einen trinken gegangen zu sein, noch bevor es ihre Band gab. Wir sind an dem Abend ziemlich abgestürzt. Aber ich habe jetzt keinen von ihnen mehr auf den CD-Covers erkannt. (lacht)

Doch ich mag ihre Musik. Die Leute belächeln dich immer, wenn du zu gibst, dass du Aqua magst. Ich bin einmal in meiner Heimatstadt in einen Pub gegangen, in dem ein Song von ihnen lief (singt Melodie). Und das erste, was ich dachte, war: oh, Rocky Horror Picture Show. Es klang wie ein Duett mit Pete Burns von Dead Or Alive, aber es war Aqua ... (alle lachen)

LAUT: Abschließend noch ein Wort zu Eurer Zukunft, da Ihr ja keine Tour nachschiebt?

Andy: Momentan sind wir einfach nur zufrieden mit dem neuen Album, aber natürlich auch gespannt, wie es von der Öffentlichkeit aufgenommen wird. Das nächste, was ich vor habe, ist ein Soloalbum, ausschließlich mit Coverversionen. Die Songs werden vor allem aus den Sechzigern stammen. Das möchte ich nächstes Jahr verwirklichen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Michael Schuh.

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