1. September 2020

"Manchmal müssen Pläne sterben"

Interview geführt von

Mit dem neuen Album "The Neon" kehren Erasure zurück zu den Anfängen des Synth-Pop-Sounds. Zeit für ein Interview, doch das Vorhaben erwies sich als schwieriger als vermutet.

Eigentlich sollte ich mit Vince Clarke sprechen, doch wegen eines zu kurzfristigen Termins musste das Interview verschoben werden. Aus Vince wurde Andy, doch dieser zweite Versuch ging wegen des kleinen Missverständnisses, wer denn nun wen kontaktiert, in die Hose. Glück gehabt, es gab einen dritten Versuch. Der wiederum drohte wegen einer veralteten E-Mail-Adresse fast zu scheitern. Doch dann war er plötzlich da: Andy Bell, der blendend gelaunte und auskunftsbereite Sänger einer der größten Synth-Pop-Bands der 1980er: Erasure.

35 Jahre! Eine Sache, die mir bei euch nie aus dem Kopf geht: Vorher hat Vince seine Partner im Minutentakt gewechselt. Warum gibt es ausgerechnet Erasure nun schon so lange? Warum denkst du ist er ausgerechnet bei dir geblieben?

Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ich glaube vielleicht hat er in einem schwulen Mann die perfekte Antwort gefunden. Weil ich keine starke Frau bin, die ihm sagt, was er zu tun hat. Ich denke auch, weil ich keine Familie habe. Ich habe außerdem viel Geduld und war ein großer Fan von Vincent, bevor wir uns getroffen haben. Für mich wurde ein Traum wahr. Vielleicht war es das, was er brauchte. Er wollte einfach jemanden, der an ihn glaubt. Als unser erstes Album "Wonderland" sich nicht gut verkaufte, war das ein guter Test für Erasure. Ich dachte, das war's. Vince verlässt mich und ich muss zurück in meinen alten Job. Aber es hat uns zusammengeschweißt.

Wann hattest du denn das Gefühl, dass er bei dir bleibt? Dass du wirklich ein Teil von Erasure bist?

Ich habe nie über die Zukunft nachgedacht. Das mache ich noch immer nicht. Ich schaue eher auf die unmittelbar bevorstehenden Dinge. Momentan freue ich mich darauf, meinen Partner wieder zu sehen. Ich schaue nicht weiter als ein Jahr voraus. Die Arbeit mit Vince ist immer ein Vergnügen, manchmal eine Herausforderung. Wir haben immer verschiedene Dinge im Gange. Wir waren nicht immer erfolgreich. Es ist wie überall, in jedem Job. Wie in jedem Handwerk. Egal ob du Jazz spielst oder Gemälde malst. Man hat schlechte Phasen, dann wieder sehr kreative. Man kann nicht immer erfolgreich sein. Manchmal müssen die Pläne sterben. Mir kommen diese 35 Jahre jedenfalls wie zehn Minuten vor.

Ihr hattet ein Zwischentief, aber seit "The Violet Flame" habt ihr neue Energie gefunden. Mit den letzten Alben seid ihr besser und besser geworden, und "The Neon" macht da keine Ausnahme. Auch deine Stimme klingt wieder kraftvoller.

Ich hoffe immer, meine Stimme verbessern zu können. Es ist dein Instrument, aber es ist auch dein Körper. Ich weiß, dass ich älter werde. Es wird schwieriger, wenn ich ins Fitnessstudio gehe. Alles dauert länger. Aber es wäre das Tollste und ich hoffe es inständig, dass meine Stimme so lange hält wie die von Sinatra. Ich würde gerne einer dieser Menschen sein, die noch anständig klingen, wenn sie achtzig Jahre alt sind.

Zum ersten Mal seit "Nightbird" habt ihr ein Album alleine produziert. Wo denkst du hört man den Unterschied zu jenen, die ihr mit einem Produzenten wie zum Beispiel Flood oder Stephen Hague aufgenommen habt?

Ich weiß es nicht. Man macht das alles ja nicht selbst. Wir hatten mit David Wranch einen Mixer. Vince war die meiste Zeit da, ich vielleicht um die vier Tage. So lange, bis ich mein Bild zum Gesang vermitteln konnte. Man wird halt professionell, wenn man etwas so lange wie wir macht. Um ehrlich zu sein, habe ich im Studio keinen einzigen Knopf gedrückt, weil ich nicht weiß, wie die Dinger funktionieren. Ich muss den Leuten nur sagen, ob wir ein bisschen mehr von dem oder dem haben können, ob wir an der Stelle noch etwas feilen können oder ob man diese in zwei Parts teilen kann. Ich wäre nicht in der Lage, andere Acts zu produzieren. Dafür brauchst du einen sound engineer. Ich glaube auch Vince braucht einen. Wenn da also steht, dass wir "The Neon" produziert haben, dann bedeutet das im Wesentlichen, dass wir die ganze Zeit über da waren. Immer am basteln.

Ihr arbeitet meistens immer noch mit analogen Synthesizern. Das Ergebnis ist oft ziemlich nostalgisch. Diesmal geht ihr damit aber noch eine Nummer weiter. Teilweise zieht ihr an "Wonderland" vorbei zu der ganz frühen Synth-Pop-Phase.

Das war auch unser Ziel. Es soll so klingen, als wären wir auf einer Zeitreise. Aber natürlich ist es unmöglich, in diese Zeit zurückzukehren. Also gingen wir über diesen Gedanken hinaus. Verstehst du mich? Wir sind nach damals zurückgekehrt, haben dem aber durch unseren heutigen Blickwinkel eine futuristische Wendung gegeben. Es war für mich spannend, die Euphorie, die ich damals als Fan erlebte, neu zu erschaffen. 1981 hörte man "Dare" von The Human League oder Soft Cell. Es fühlte sich einmalig an, "Love Is A Stranger" von Eurythmics zu hören. Ich fühlte mich einfach großartig, wenn ich diese Songs hörte. Das war es, was wir wollten. Wir wollten neuen Menschen die Möglichkeit geben, dieses Gefühl zu erleben.

Erasure stürzte ab, bevor die Pop-Industrie abstürzte.

"The Neon" ist ein sehr fokussiertes Album geworden. Als hättet ihr bewusst versucht, die Erfahrungen und die Stärken aller Veröffentlichungen eurer Vergangenheit in einen Longplayer zu stecken. Am meisten erinnert es mich aber an "Chorus".

Vielleicht haben wir genau das getan. Wir haben alle Platten, die wir jemals gemacht haben, genommen, sie eingeschmolzen und dann im Mixer immer wieder durch und durch gemischt. Dann haben wir geschaut, was heraus kam und wie es klingt.

Wenn du alle Platten sagst, fehlt mit "Erasure" von 1995 aber eine definitiv. Ein Album, das sich mit den langen Songs und den Ambient-Elementen so ganz anders als alle anderen anhört. Dahin seid ihr nie wieder zurückgekehrt.

"Erasure" war ein ganz spezielles Album. Erasure ist wie eine Wippe, mit einem großem Hoch zu Beginn. Wir waren sehr beliebt und viele Menschen kauften unsere Platten. Dann bewegte sich die Wippe zur Mitte. Dann haben wir "Erasure" gemacht und die Wippe krachte laut zu Boden. Dabei war alles perfekt vorbereitet. Ich denke, wir haben ein großartiges Album aufgenommen. Da es aber einfach nicht der richtige Zeitpunkt war, hatte es nicht die Radio Rotation. Es lief nur Britpop und die Spice Girls. Da war es total anders. Die Pop-Industrie veränderte sich und die Leute, die für uns arbeiteten, hatten plötzlich keinen Job mehr. Das war nicht gut. Wir mussten wieder von neuem beginnen. Aber es war auch gut, da Erasure abstürzten, bevor die Pop-Industrie abstürzte. Wir waren mitten drin, als das passierte. Es war fast so, als hätten wir den größten Schaden davon getragen. Wir mussten uns sehr langsam wieder aufbauen. Ich würde nicht sagen, dass wir uns neu erfinden mussten. Das ist mit Erasure nicht möglich, da wir Erasure sind. Es ist nicht so, als wären wir Madonna. Wir haben nicht alle fünf Minuten einen neuen Look. Wer auch immer produziert, es sind nur wir zwei. Du hast also recht. "Erasure" ist nicht dabei. Ich glaube auch nicht, dass wir nochmal ein solches Album machen können. Ich liebe es, dass es diese Seite von uns gibt und Menschen lieben es wirklich. Es ist dieses besondere Album, das nie wirklich Gehör fand. Ich liebe diese Idee. Es gibt immer noch dieses Geheimnis.

Zurück zu "The Neon". Im Gegensatz zum Vorgänger ist der Sound sehr reduziert und konzentriert. Manchmal wie bei "Hey Now (Think I Got A Feeling)" sogar hart. Du klingst dagegen oft, als wolltest du im nächsten Moment die Welt umarmen.

Ich bin Jack in the Box. Ich springe raus und sage: "Hallo! Wir sind immer noch hier!" Aber nichts kommt zurück. (lacht) Es ist nicht zu ernst. Ich möchte diese nachdrückliche Energie haben. Ich möchte immer soulful sein. Ich habe nie das Gefühl, dass ich genug soulful bin. Aber ich versuche es immer. Vielleicht sollte ich Gesangsuntericht bei Sam Smith nehmen.

Deine Stimme ist so speziell, du musst nicht wie Sam Smith klingen. Das Wichtigste ist doch, dass die Leute jemanden erkennen. Da ist es gar nicht wichtig, wie gut du singst.

Oder wie schlecht man singt. (lacht)

"Immer nur warten, warten, warten"

Durch die momentane COVID-19-Situation haben viele Acts ihr Album verschoben. War das für euch auch eine Option?

Wir haben es leicht verlegt. Die erste Single sollte früher raus kommen. Wir haben auch den Titel verändert. Ich glaube er war "Walk through the city scene. Halleluja!". Aber dann kamen die Black Lives Matter Demonstrationen. Da dachten wir, es wäre keine gute Idee und haben ihn sofort geändert. "Hey Now (Think I Got A Feeling)" ist auch viel besser. Viel positiver. Wir hatten auch Liveshows geplant. Die wurden auf nächstes Jahr verschoben. Wir warten immer noch und haben keine Ahnung. Eine Radio 2-Show im Hyde Park wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Wir sind wie alle und warten darauf wie es weiter geht. Nur warten, warten, warten. Aber das Warten hat auch etwas Positives, da es dir Energie gibt.

Wer weiß, wie lange das dauert. Man könnte in der Zeit ja schon an einem neuen Album arbeiten.

Ich habe keine Ahnung. Vielleicht dauert es für immer. Wer weiß das schon.

Ich weiß es auch nicht. Aber ich denke nicht. Alles ist immer irgendwann vorbei gegangen. Wie denkst du, wird sich das weiter auswirken?

Ich denke, alles ändert sich grundlegend. Die Erwartungen an die Regierungen ändern sich. Wer diese Leute sind, die uns sagen, was man zu tun hat. Wo ist die Humanität? Es zeigt, wie das System in Amerika funktioniert. Nun, ich habe meinem Partner immer gesagt, ich kann nicht glauben, dass man eine solche Gesellschaft haben kann, in der die Menschen kein Gefühl oder was auch immer dafür haben, ob du lebst oder stirbst. Wie kann man eine Gesellschaft darauf gründen? Die Menschen haben so viele Fragen. Wirklich, wirklich grundlegende Fragen. Es ist unglaublich zu sehen, wie ganze Nationen, besonders wie die USA, einfach ausflippen und nicht wissen, was zu tun ist. Sie haben keine Führung, also töten sie sich im Grunde genommen gegenseitig. Es wird riesige Schritte brauchen. Aber ich bin sehr hoffnungsvoll für die jungen Leute. Dankbar. Weil sie viel mehr Ahnung haben als diese alten Menschen im Weißen Haus.

Zurück zu etwas fröhlicheren Themen. Während der Vorbereitung auf das Interview habe ich mal wieder in dein Solo-Album "Electric Blue" gehört und war ganz überrascht, wie viele andere Longplayer du mittlerweile raus gebracht hast. Huch, wo kommen die denn alle her?

(lacht)

"Torsten in Queereteria" aus dem letzten Jahr ist sehr anders als Erasure. Mehr Varieté. Eine Band besteht ja auch immer aus Kompromissen. Wie viel Andy Bell lässt du also bei Erasure außen vor?

Ich kann den Sound nicht diktieren. Das ist Vinces Arbeit. Er ist wie ein Bildhauer. Er erschafft die Sounds. Speziell an den analogen Synthesizern. Vom frühen Anfang bis zum Ende des Sounds. Wenn wir zusammen im Studio waren und Vince ungefähr acht Stunden an einer Hi-Hat arbeitet, werde ich irgendwann OOAAHHHHHRRR. Da waren wir doch schon vor zwei Stunden! Aber er hat diese Idee in seinem Kopf. Das ist der Ort, zu dem er mit seinem Sound hin möchte. Er mag den Weg, um zu dem Sound zu kommen, den er im Kopf hat. Er ist da wie ein Pilot mit einem klaren Ziel. Ich sage nicht zu ihm: "Nein nein nein. Das hat so und so zu klingen". Manchmal bitte ich ihn, gewisse Dinge zu machen, aber lasse meine Hände davon. Denn das sind seine Sounds. Ich würde sagen: Vince + Andy = Erasure.

Zuletzt, wenn du einer Person, die noch nie etwas von euch gehört hat, Erasure erklären solltest, welches Album oder welchen Song würdest du dafür wählen?

Ich würde "Here I Go Impossible Again" von Nightbird nehmen.

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