laut.de-Kritik

House Music der anderen Art.

Review von

Als sie mit 19 ihr Debüt veröffentlichte, wurde sie mit Ehrungen, Kritikerlob und goldenen Schallplatten geradezu überschüttet. Dabei war "Tidal" alles andere als ein geschmeidiges Pop-Album. Eher ein Urahn von Billie Eilishs "When We All Fall Asleep", in dem sich Fiona Apple mit ihrer dunklen Gedankenwelt auseinandersetzte.

23 Jahre später erscheint nun ihr erst fünftes Werk, das in mühsamer Kleinarbeit in ihrem Haus in Venice Beach, Los Angeles entstanden ist. Apples ausdrucksstarke, rauchige Stimme und das Klavier sind geblieben, statt Streichern wie auf dem Debüt dienen hier perkussive Elemente als wichtigste Begleitung. Unter anderem die Knochen ihres innig geliebten, verstorbenen Hundes Janet und die Flächen ihres Heims.

House Music der anderen Art, wie sie mit einer Prise Ironie selbst dazu meint. Und wie gewohnt eine Auseinandersetzung mit ihrem Innenleben, das ohne große Ablenkungen ihren Alltag prägt. Außer mit ihrem aktuellen Hund Mercy für den täglichen Spaziergang verlässt sie ihre vier Wände selten. Soziale Medien verwendet sie nicht, eine offizielle Webseite hat sie längst nicht mehr, aktuelle Musik interessiert sie kaum, Interviews und Konzerte gibt sie nur noch selten. Sie ist Künstlerin durch und durch.

Einsam ist sie dennoch nicht. Auf dem Album sind neben ihrer Stammband auch ihre Schwester Amber (in "Newspaper") zu hören und im Titeltrack Model und Schauspielerin Cara Delevingne, die den Hintergrundgesang beisteuert und ein markantes "Miau". Klar, Hundegebell ist auch zu hören.

Dafür, dass die Aufnahmen im Wesentlichen mit Hausmitteln stattfanden - Computer und Handy, - ist der Klang erstaunlich intensiv. Das gilt für Stimme und Klavier wie auch für Schlagzeugerin Amy Aileen Wood. Apple und Wood kennen sich schon seit zwei Jahrzehnten und pflegen offenbar eine nicht ganz einfache Beziehung. Was sich daran zeigt, dass Apple Wood ehrt, indem das Album mit einer coolen Schlagzeugeinlage startet, sich im vorletzten Stück "Drumset" aber beklagt, dass das Instrument plötzlich abhanden gekommen sei. Laut Wood bezieht es sich auf eine turbulente Aufnahmesession, nach der sie das Schlagzeug mitnahm. Apple hatte wohl befürchtet, dass Wood ihre Sachen endgültig gepackt habe, dabei benötigte sie es lediglich für einen Liveauftritt.

Wood spielt jedenfalls eine zentrale Rolle, ebenso wie ihr Vater John Would, der als Toningenieur half, Hunderte Soundschnipsel zusammenzuschneiden, um ein organisches Album zu erzeugen. Der erfahrene Produzent Tchad Blake war beratend tätig, doch behielt Apple stets alle Fäden in der Hand.

So beließ sie im Endmix bei all der rhythmischen Vertracktheit schöne spontane Einlagen, etwa ein "Ah, fuck, shit" im abschließenden Stück, als sie im schnell gesprochenen Text "On I go, not toward or away / Up until now it was day, next day / Up until now in a rush to prove / But now I only move to move" kurz den Takt verliert.

Zeilen übrigens, die Apples Weg als Künstlerin gut beschreiben: stets in Bewegung, nicht um ein Ziel zu erreichen oder von etwas davon zu laufen, sondern aus der inneren Notwendigkeit heraus, sich zu bewegen.

Apple setzt auch Verse ein, die in ihrer Schulzeit entstanden. "Shameika" hieß ein ruppiges Mädchen in ihrer Klasse, das meinte, sie erkenne in Apple "Potential", der Refrain des Liedes. "Evil is a relay sport / When the one who's burned turns to pass the torch" lautet der Text von "Relay", ein Zungenbrecher, den sie mit 15 schrieb und in etwa bedeutet: "Das Böse ist ein Staffelsport / Wenn der Verbrannte sich umdreht, um die Fackel weiterzureichen" .

Selbst der Titel des Albums hat einen beunruhigenden Bezug. "Holt den Bolzenschneider" ist eine Anspielung auf die Fernsehserie "The Fall – Tod in Belfast", in der Gillian "Scully" Anderson Sexualverbrechen aufklärt. In einer Episode spricht sie den Satz aus, um eine Frau zu befreien, die gefoltert wurde.

Um dieses Werk positiv zu deuten könnte man sagen, dass Apple damit versucht, sich von ihren Ängsten und Zwängen zu befreien. Aber das Böse ist nie weit entfernt. "Good mornin'! Good mornin' / You raped me in the same bed your daughter was born in", wirft Apple unvermittelt in "For Her" ein. Ihr ist bewusst, dass eine Befreiung einerseits nicht möglich ist, andererseits die Zwangsstörungen, Depressionen und Angstzustände, mit denen sie seit ihrer Kindheit auseinandersetzen muss, die Quelle ihrer Kunst sind.

Eine große Kunst, wie sie auch auf "Fetch The Bolt Cutters" unter Beweis stellt. Ein Album, das einige Zeit benötigt, um sich zu offenbaren, dann aber dazu einlädt, immer und immer wieder gehört zu werden.

Trackliste

  1. 1. I Want You To Love Me
  2. 2. Shameika
  3. 3. Fetch The Bolt Cutters
  4. 4. Under The Table
  5. 5. Relay
  6. 6. Rack Of His
  7. 7. Newspaper
  8. 8. Ladies
  9. 9. Heavy Balloon
  10. 10. Cosmonauts
  11. 11. For Her
  12. 12. Drumset
  13. 13. On I Go

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9 Kommentare mit 5 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    Ich bin sicher, die Scheibe ist wieder brilliant geworden. Da ist es nicht schlimm, daß ich aus dieser Rezension praktisch nichts über die Musik erfahren habe. Und sicherlich wird es auch ihre eigenartigen Interviews oder Statements zur Promotion der Platte vergessen machen.

    • Vor 4 Jahren

      Wieso, wie hat sie denn da gemacht? Oder meinst du die Sachen, die auch hier in der Rezension stehen?

    • Vor 4 Jahren

      Hatte gerade was leicht längeres zu geschrieben, aber es ist in den Schlünden von laut verschwunden. Kurz: Sie hat Louis C.K., Quentin Tarantino und ihren Ex, Starregisseur Paul Thomas Anderson, offensichtlich mit mal mehr, mal weniger mit Schmutz beworfen. Und das auf eine eher selbstgerechte und enorm vage Art und Weise. Ich schätze Fiona Apple sehr, war aber vom durchsichtigen Mittel zur Promotion auf Kosten von Kollegen doch etwas enttäuscht.

  • Vor 4 Jahren

    Gut, aber bis jetzt kein 5/5, kein 10/10 oder 100/100 Album. Vielleicht wächst es noch, aber für mich klingt das gerade nach wirklich gut/Meilenstein.

  • Vor 4 Jahren

    ich habe the fall nie zu ende gesehen :suspect: ich frage mich warum? eigentlich recht spannend und gut gemacht. bleibt das ende dem niveau der ersten staffel ähnlich?

    • Vor 4 Jahren

      achja liebe für fiona ♥ sullen girl ♥ ♥ :phones:

    • Vor 4 Jahren

      Die erste Staffel war gut. Staffel 2 und 3 waren aber absolut lächerliche Versuche, die Geschichte weiterzuspinnen. Egal, wie wenig es zu erzählen gab.

    • Vor 4 Jahren

      ich habe tatsächlich vergessen, wie weit ich gesehen habe über die erste season hinaus. wird ernsthaft 2 weitere staffeln lang ausschließlich der antagonist aus der ersten season gejagt? :suspect:
      ich meine, hannibal hatte auch staffelübergreifende mörder (shrike, chesapeake ripper, drache, verger)
      aber es gab wenigstens in season 1 und 2 killer, die über einzelne folgen gejagt wurden