laut.de-Kritik
Der Beginn einer außergewöhnlichen Karriere.
Review von Giuliano BenassiWar es Glück oder Pech? Genau ein Demotape in Form einer Kassette brauchte Fiona Apple, um einen Plattenvertrag an Land zu ziehen. Den musste sie ihrer Mutter zur Unterschrift vorlegen, weil sie noch nicht volljährig war. Die konnte es nicht fassen, dass 100.000 Dollar als Vorschuss überwiesen werden sollten. Ein Vorgang, der selbst in den 1990er Jahren, als das Geld in der Musikindustrie noch reichlich floss, unüblich war. Doch Andy Slater, der sich als Produzent des Rock-Musikers Warren Zevon einen Namen gemacht hatte, war begeistert und hatte Fiona für Sony unter Vertrag genommen.
Zwei Jahre nach Einreichen des Demos erscheint "Tidal" im Sommer 1996. Apple ist 18 und auf Krawall gebürstet, was nicht so recht zu ihrer dunklen, ruhigen Stimme und den angejazzten Arrangements passt. Emanzipierte, selbstbewusste Frauen sind zu diesem Zeitpunkt keine Seltenheit mehr, doch begeht sie Neuland, als sie in einem Interview mit dem Rolling Stone erzählt, mit 12 vor der Wohnung ihrer Mutter von einem Unbekannten vergewaltigt worden zu sein. Damit tritt sie eine mediale Welle los, die sie bald überrollt. "Diese Welt ist Bullshit, und du solltest dein Leben nicht danach ausrichten, was wir für cool halten, was wir anziehen und was wir sagen", verkündet sie 1997 bei den MTV Video Music Awards. Sie hat keine Lust mehr, die ständig selbe Frage zu beantworten (die Vergewaltigung "ist nicht der Grund, weshalb ich schreibe. Es ist ein langweiliger Schmerz, kein poetischer", erklärt sie 2000), findet jedoch zunächst keinen Weg aus dem Rampenlicht.
Wie auch, wenn man als musikalisches Genie dasteht, das als Kind Klavier spielen gelernt, mit sieben die ersten Kompositionen geschrieben, mit 19 mehrere Grammys und MTV Awards gewonnen und vom Debütalbum zwei Millionen Exemplare verkauft hat? Dazu verkörpert Apple das Bild der anorexischen, verruchten Schönheit, das Calvin Klein und Kate Moss populär gemacht haben. Heroin chic, vor allem im Video zu "Criminal", ihrer erfolgreichste Single. Abstürze in der Öffentlichkeit und wechselnde Freunde halten die Presse auf Trab.
Dabei legt das Album das Innenleben einer Frau offen, die seit ihrer Kindheit mit Zwangsstörungen, Depressionen und Angstzuständen kämpft, sich davon nicht aber unterkriegen lässt. Während sie ihre Dämonen mit der Öffentlichkeit teilt, baut sie gleichzeitig eine Mauer um sich auf. Wie es Joni Mitchell ein Vierteljahrhundert davor getan hatte, einerseits mit "Blue", andererseits mit einem Schutzmechanismus, der als Überheblichkeit und Jähzorn interpretiert wurde.
Texte allein machen noch keine gute Musik. Doch gerade die ist es, die "Tidal" - und Apples gesamtes, spärlich wie erlesenes Werk, - zu etwas Besonderem macht. Slater, der ihr den Vertrag besorgt hat, übernimmt auch die Rolle des Produzenten und scheut keinen Aufwand, um das Studio mit hochkarätigen Musikern zu besetzen. Doch bleiben Apple und ihr Klavier im Mittelpunkt, unterstützt von rhythmischen Elementen, die im Laufe ihrer Karriere eine immer größere Rolle spielen.
Mit einem wuchtigen Schlagzeug leitet der Opener eine Reise in eine verträumte Welt ein, die stellenweise einen Alptraum gleicht und doch auch für erhabene Momente sorgt. "Sleep To Dream" schrieb Apple, als sie 14 war, offenbar mit frisch gebrochenem Herz. "I have never been so insulted in all my life" singt sie in der dritten Strophe. Blendet man Stimme und Streicher im folgenden "Sullen Girl" aus, könnte man meinen, Nick Cave sitze am Klavier. Doch der erste richtige Höhepunkt ist "Shadowboxer". "Once my lover, now my friend / What a cruel thing to pretend / What a cunning way to condescend / Once my lover, and now my friend" singt Apple zu Beginn, und doch kann sie ihren Verflossenen nicht loslassen und folgt ihm wie ein Schatten.
Ein ganz anderes Bild zeichnet sie im bekanntesten Stück des Albums, "Criminal", geschrieben in einer Dreiviertelstunde während einer Aufnahmepause. "I've been a bad, bad girl / I've been careless with a delicate man / And it's a sad, sad world / When a girl will break a boy / Just because she can". Aus der jungen Frau mit gebrochenem Herzen ist hier eine kühle Femme Fatale geworden. "Slow Like Honey" und "The First Taste" klingen poppig-konventionell und passen nicht so recht den vorherigen Stücken, dafür folgt mit "Never Is A Promise" eine Klavierballade erster Güte, dezent begleitet von Streichern, die Van Dyke Parks arrangierte. Es war eines der drei Stücke, das sie für das Demotape aufnahm, mit dem alles begonnen hatte. Und das letzte, das auf "Tidal" einen bleibenden Eindruck hinterlässt, denn "The Child Is Gone", "Pale September" und "Carrion" klingen eher wie Füllmaterial, um das das Album vollzukriegen.
Vier bis fünf gute Stücke auf dem Debüt sind mehr, als die meisten Künstler vorweisen können. Siehe David Bowie, der etliche Anläufe brauchte, bis er endlich einen Hit hatte, und noch einige mehr, bis er zum Star wurde. Die meisten hätten längst aufgegeben. Bei Fiona Apple ist genau andersrum gelaufen - sie musste kämpfen, um wieder in Vergessenheit zu geraten.
1999 veröffentlichte sie "When The Pawn ...", dessen Titel eigentlich ein Gedicht mit 444 Zeichen war, das sie als Antwort auf eine wenig schmeichelhafte Coverstory schrieb. 2000 zog sie endgültig nach Los Angeles - ihre Kindheit und Jugend hatte sie abwechselnd in New York bei ihrer Mutter und in LA bei ihrem Vater verbracht - und fand in ihrem Haus am Venice Beach den ersehnten Zufluchtsort. "Ich habe versucht, meine eigene kleine Blase so wenig wie möglich zu verlassen", erzählte sie 2005. "Es war eine harte Zeit, und ich glaube nicht, dass ich diese Art von Popularität jemals wieder erleben möchte. Es verletzt die Gefühle. Es verletzte meine Gefühle, missverstanden zu werden und ein Gesprächsthema zu sein."
Seitdem hat sie sich noch weiter zurückgezogen, tritt nur noch selten live auf, kümmert sich um ihren Hund und meldet sich ab und an mit einem neuen Album. Wobei die Abstände immer größer werden. Das dritte, "Extraordinary Machine", war 2003 bereits fertig gestellt, die Veröffentlichung wurde aber mehrfach verschoben. Fans vermuteten, dass das Label dahinterstecke, und gründeten die Seite freefiona.com, um die Veröffentlichung zu erzwingen. Ein Shitstorm aus der Zeit, als soziale Netzwerke noch in den Kinderschuhen steckten, samt geleakter Tracks als "Beweismaterial". Letztlich war der Hauptgrund Apple selbst, die mit dem Ergebnis nicht zufrieden war und nochmal ins Studio ging, um das schließlich 2005 veröffentlichte Album zu überarbeiten.
Ihr Label ließ sie erstaunlicherweise nicht fallen und gab Apple die Freiheit, die sie brauchte. Mit Erfolg: "The Idler Wheel ..." erreichte 2012 Platz 3 der US-Charts, "Fetch The Bolt Cutters" schaffte es 2020 in die Top Ten der meisten "Alben des Jahres"-Listen, auch bei laut.de.
Die Jahre mögen vergangen sein, temperamentvoll ist Apple geblieben. "Ich habe eine Menge Wut in mir. Ich habe viel Traurigkeit in mir. Und ich kann Arschlöcher wirklich, wirklich, wirklich nicht ausstehen. Wenn ich vor einem stehe, und ich bin zufällig an einem öffentlichen Ort, und ich raste aus, dann ist das nicht gut für mich. Aber ich kann nicht anders, weil ich mich verteidigen will", erklärt Apple 2020 in einem Porträt in der Zeitschrift New Yorker. Letztlich ist aus dem Pech, das sie hatte, eine glückliche wie außergewöhnliche Karriere entsprungen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
6 Kommentare mit 2 Antworten
Der Nachfolger ist noch besser. Ach, sie hat einfach kein schwaches Album.
Ach, und da wirste dann selber schwach. Geez, du bist so ein Heuchler und ein schlechter noch dazu!
Was laberste da?
Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.
Sie ist das, was Taylor Swift, Lady Gaga etc. gerne wären, aber nicht sind: Ein Ausnahmetalent. Nur 5 Alben in 25 Jahren und jedes davon darf man als Meisterwerk bezeichnen. Die endlos langen Albumtitel hätten aber nicht sein müssen.
Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.
Jetzt bin ich nur zu faul zum suchen, aber hatte Fiona bei euch bisher echt noch keinen? Schändlich, wenn's so wäre, aber dann hat Herr Benassi euch da gewohnt stil- und textsicher mal wieder den Arsch gepudert, jetze!
Ansonsten natürlich unstrittig Ausnahmekünstlerin sowie Vertreterin einer außerweltlich anmutenden Hochkultur. Da muss jede/r für sich entscheiden, mMn hätten hier auch "Idler Wheel" und "Fetch the bolt cutters" mit gleicher Wahrscheinlichkeit und Berechtigung auftauchen können.
Lieblingsartist ❤
Insofern freue ich mich natürlich sehr über den Stein. Aber: Auch wenn ich die 3 Stücke zum Abschluss nicht ganz so schwach finde wie der Autor und Criminal und Never Is A Promise toll sind, kann ich die Albenwahl nicht ganz nachvollziehen. Tidal ist ein wirklich schönes Album, das mMn aber bestenfalls andeutet, wie außergewöhnlich das, was da später noch kommen sollte, werden kann. Schon auf dem Nachfolger sind mit Paper Bag und vor allem I Know Stücke für die Ewigkeit bei null Ausfällen drauf. Extraodinary Machine, das (vmtl. auch weil es vergleichsweise heiter daherkommt) mMn sehr zu Unrecht oft als ihr schwächstes angesehen wird, ist (insbesonder auf Hälfte 2) vll. das beste Pop-Album, das ich kenne. Und Idler Wheel schwebt für mich eh über allem.
Ok, die Kritik ist ja erkennbar als Würdigung des Gesamtschaffens angelegt, da macht es vmtl. schon Sinn den Anfang als Aufhänger zu nehmen, insofern einverstanden. Aber falls jemand auf die Idee kommen sollte, den Meilenstein mal als Anlass zum Nachholen zu nehmen: Unbedingt auch die anderen Alben hören, ihr bestes ist das hier nämlich niemals nicht!