laut.de-Kritik

Sie sangen von Panikmache, dann schlug Covid-19 zurück.

Review von

An diesem Punkt ihrer Karriere könnten Frei.Wild wahrscheinlich ihre Kühe im Stall beim Wiederkäuen aufnehmen und würden damit die deutschen Albumcharts dominieren. Schon vor einigen Wochen schoss das "Corona Quarantäne Tape" auf Platz 3, damals wohlgemerkt als reines Digitalrelease. Kaum erscheint die CD, steht sie an der Spitzenposition. Die Fan-Bindung haben die Südtiroler perfektioniert, das muss man neidlos anerkennen. Die neue Platte ist ein Ausdruck dessen, denn musikalisch ist gewohnt wenig los.

Als Zeitdokument ist das "Corona Quarantäne Tape" durchaus interessant. Bereits Anfang März, also noch vor dem vollständigen Lockdown Italiens, hatten Frei.Wild ihre erste Corona-Hymne veröffentlicht: "Corona Weltuntergang". Damals prangerten sie zwischen den Zeilen noch Hysterie und Panikmache an. "Und die Gesunden / Werden jetzt durch Sorge krank", seufzt Burger. "Es ist schlimm, doch es könnte noch schlimmer sein." Dann erkranken die Bandmitglieder selbst an COVID-19 und rudern wenige Wochen später zurück. "Corona Weltuntergang V2" erscheint – gleiche Musik, ähnlicher viraler Erfolg, anderer Text: "Verdammt, wir lagen so falsch / Wir lagen daneben / Dann ritt das Karma zu uns heim" Die öffentliche Wahrnehmung hatte sich verändert, und sogar die rebellischen Deutschrocker hocken nun brav und reumütig zuhause und dichten über "dieses kleine Scheißding".

So eloquent die Formulierung klingt, so auch die Musik. "Corona Weltuntergang" ist ein in kürzester Zeit zusammengeschusterter 08/15-Frei.Wild-Song, schnörkellos, grölbar und egal, wären da nicht Burgers lautes Organ und die in ihrer bewusst plumpen Ausdrucks- und penetrant rumpeliger Vortragsweise clever kalkulierten Lyrics. Diese Beschreibung gilt für fast alle Songs des Tapes, dessen größter Unterschied zu einem normalen Frei.Wild-Album darin besteht, dass es bereits nach elf Songs endet. Das gab es in der Vergangenheit bisweilen dreimal so lang, ohne nennenswert mehr Themen oder stilistische Abwechslung.

Frei.Wild liefern alles, was das Geweih tragende Herz begehrt: ein bisschen Mainstream-Skepsis ("Corona Weltuntergang"), ein bisschen Kritikerhiebe ("Wir Gehen Dir Ewig Auf Die Eier"), ein bisschen Freiheitsliebe. In "Hier Rein Da Raus Freigeist" bringt es Burger tatsächlich fertig, in neun Refrain-Zeilen sage und schreibe siebenmal "scheiß" zu singen, denn das reimt sich ja so gut mit "Freigeist".

Dazu kommt ein bisschen Pseudo-Existenzialismus ("Wo Geht Es Hin Wo Bleiben Wir Stehen", "Nur Das Leben In Freiheit"), Durchhalteparolen ("Renne, Brenne, Himmelstürmer", "Corona Weltuntergang V2") und etwas Selbstreflexion ("Ich Weiß Wer Ich War", "Spirit Of 96"). All das bewältigen Frei.Wild zwischen Kuschel-Deutschrock und Mittelfinger-Schlager. Recht häufig greifen sie dabei zur Akustikgitarre – wohl um den Home-Recording-Vibe zu stärken. Der inzwischen obligatorische Ska-Ausflug kommt in Form von "Engel Über Dem Himmel".

Positiv hervor sticht "Spirit Of 96". Was angesichts des Titels erst wie eine Feelgood-Hymne wirkt, entpuppt sich als textlich eher düstere Rückschau. Burger nimmt unter anderem auf seine Skinhead-Vergangenheit Bezug. Musikalisch brechen Frei.Wild hier auf angenehme Weise mit ihrem sonst vorherrschenden Deutschrock-Standard und frönen lockerem Indie, der stellenweise zu Wanda passen würde. Der zuversichtliche, mit Streichern ausgekleidete Refrain geht als ein Highlight ihres Schaffens durch. Nichtmal der stinkfaule Schlussakkord zerstört das.

Wer hätte gedacht, dass Frei.Wild ausgerechnet auf einem spontan veröffentlichten Zeit-ist-Geld-Release überraschen können, und sei es nur mit einer Quote von 1 zu 11? Da die Südtiroler dazu noch ihren Opferrollenhabitus leicht herunterfahren, wackelt der gesenkte Daumen immerhin leicht nach oben. Wer mit der Mistgabel im Quarantänehaufen rumstochern möchte, weiß, was er bekommt.

Trackliste

  1. 1. Corona Weltuntergang
  2. 2. Alles Alles Was Mir Fehlt
  3. 3. Wir Gehen Dir Ewig Auf Die Eier
  4. 4. Nur Das Leben In Freiheit
  5. 5. Hier Rein Da Raus Freigeist
  6. 6. Renne, Brenne, Himmelstürmer
  7. 7. Ich Weiß Wer Ich War
  8. 8. Wo Geht Es Hin Wo Bleiben Wir Stehen
  9. 9. Engel Über Dem Himmel
  10. 10. Spirit Of 96
  11. 11. Corona Weltuntergang V2

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Frei.Wild

In Brixen, Südtirol gründen im September 2001 die beiden Gitarristen Philipp 'Fips' Burger und Jonas 'Joy' Notdurfter zusammen eine Band. Als Fans von …

19 Kommentare mit 70 Antworten