laut.de-Kritik
Ein kühl kalkuliertes Meisterwerk des Wahnsinns.
Review von Jürgen LugerthEs könnte sein, dass Leute, die Genesis erst durch ihre eher harmlosen, aber sehr erfolgreichen Pop-Hits wie "Follow You, Follow Me", "Mama" oder "That's All" kennengelernt haben, gar nicht wissen, was diese Band vorher so alles getrieben hat. Es könnte auch sein, dass es heutzutage eine Menge Unwissende gibt, die glauben, die erste große Tat des Sängers Peter Gabriel wäre sein sehr tanzbarer Song "Sledgehammer" von 1986 gewesen.
Diesen Mitmenschen muss endlich mal geholfen werden, damit sie die wahre Dimension dieser formidablen Band erkennen. Nicht wenige Rockfans älteren Semesters erinnern sich noch nostalgisch-selig an die Zeit, als Peter Gabriel der geheimnisvolle und ziemlich ausgeflippte Frontmann und Vokal-Artist/Flötist bei Genesis war und Phil Collins, der all die netten kleinen Liedchen späteren Datums zu verantworten hat und sie auch sang, brav und unauffällig hinter dem Schlagzeug saß, schwieg und einfach nur trommelte. Das immerhin sehr präzise und variantenreich.
Bis heute ist nicht ganz klar, warum Peter Gabriel im Jahre 1975 die Band verließ. Es ist von Lampenfieber, Krankheit und den üblichen künstlerischen Differenzen die Rede. Was aber in den Jahren davor bei Genesis mit Gabriels wesentlicher Beteiligung passierte, ist nach Meinung vieler Fans der Kern und die musikhistorisch relevante Leistung dieser Combo. Denn nach eher noch tastenden Anfängen, in denen Genesis zwischen poppig-versponnenen, folkigen und noch sehr harmlos rockenden Klängen hin und her schwankten, manifestierte sich die Band mit den fünf aufeinander folgenden Alben "Trespass", "Nursery Crimes", "Foxtrot", "Selling England By The Pound" und "The Lamb Lies Down On Broadway" als ein mystisch-bizarres, höchst kreatives und musikalisch versiertes Progressive Rock-Monster, das in eine Linie mit Zeitgenossen wie Yes, Van Der Graaf Generator oder King Crimson zu stellen war.
Neben der musikalischen Vielfalt und Qualität zeichneten Genesis damals durch völlig abgedrehte, symbolträchtige und schwer zu durchschauende Texte aus, die allesamt aus der Feder von Frontmann Gabriel stammten. Was dort an Figuren ersonnen wurde, illustrierte Gabriel live auf der Bühne durch die verrücktesten Kostüme, die er von Song zu Song wechselte. So waren Genesis-Konzerte nicht nur ein herausragendes akustisches Erlebnis, sondern es gab auch ordentlich was auf die Augen. Diese Phase endete abrupt mit dem Ausstieg des Zeremonienmeisters.
Um auf die fünf aufgeführten Alben der kreativsten und intensivsten Phase zurückzukommen: Da hat jede Platte höchst erhebende Kompositionen und Momente. Stücke wie "The Musical Box", "The Return Of The Giant Hogweed", "Dancing With The Moonlit Knight" oder die thematische Komplexität des gesamten Lamb Lies Down-Albums beeindrucken bis heute und zeigen das große Können der Band. Dennoch behaupten nicht wenige, inklusive des Schreibers dieser Zeilen, dass "Foxtrot" von 1972 bis heute das kunstfertigste, abgefahrenste und auch am schwersten zugängliche Werk der Progrocker ist.
Schon das Cover des Albums ist Surrealismus pur. Besonders ins Auge sticht natürlich die Dame mit dem Fuchskopf, die auf einer Eisscholle im Meer stehend von einer am Strand auf Pferden sitzenden Jägergruppe im roten Frack beobachtet wird. Eine Meute Jagdhunde ist zur Hatz bereit. Daneben sieht man allerlei Elemente, die in den Texten der Platte vorkommen. Wir reden hier natürlich vom Klappcover der Vinyl-Version, die das einzige angemessene Format für dieses Meisterwerk darstellt. Auf den Innenseiten des Gatefolds stehen alle Lyrics der Stücke. Sie zu entschlüsseln kann Jahre dauern.
Nun endlich zur Musik. Es geht los mit dem von mächtigen Mellotron-Schwaden eingeleiteten, majestätisch erhabenen "Watcher Of The Skies" mit seiner überwältigenden Dynamik, die fast schon allein den Kauf der Platte rechtfertigt. Eine Blaupause für alle Proggies bis in die heutige Generation. Darauf folgt das eher zurückhaltende, fast mittelalterlich anmutende und melancholische "Time Table", das Vergänglichkeit und die Unfähigkeit der Menschen, friedlich zusammenzuleben, thematisiert. Sehr stimmungsvoll. Danach ist die abstruse Mini-Oper "Get 'em Out By Friday" zu hören. Dort werden wegen der wachsenden Weltbevölkerung die Menschen geschrumpft, damit mehr in einen Häuserblock passen. Keine schlechte Idee, bis heute aber noch nicht machbar. Das Ganze wird mittels 'dialogischen' Gesangs und entsprechende Tempowechsel umgesetzt. Peter Gabriel erbringt hier bei der Darstellung der verschiedenen Figuren des Trauerspiels gesangliche Höchstleistungen. Seite eins der Schallplatte endet mit dem rätselhaft betitelten "Can-Utility And The Coastliners". Es beginnt eher verhalten, baut sich zu einem von Keyboards dominierten Traumflug auf und endet sehr plötzlich in spontaner Raserei.
Und nun kommt das Herz und das Kernstück dieser Platte. Ein schlichtes Akustikgitarren-Intro namens "Horizons" leitet den über zweiundzwanzigminütigen Oberhammer "Supper's Ready" ein, der bis heute noch in seiner Vielfalt, Komplexität, Abgedrehtheit und musikalischer Kompetenz unerreicht ist. Dieses Stück ist kaum zu erklären. Man muss es einfach hören, am besten mehrmals. Textlich wird man es niemals begreifen, ebenso wenig die Betitelungen der sieben Abschnitte, in die der Longtrack aufgeteilt ist. Ein psychedelischer Trip durch die Gedankenwelten und Alpträume des Peter Gabriel, der von Liebe, Krieg, Tod, Religion, Mythologie und was auch immer handelt. Es hagelt teils drastische Bilder, irre Wortspiele, jede Menge Allegorien und Assoziationen und am Ende eine Art Rückkehr zum textlichen Anfangspunkt, der ganz simpel einen harmonischen Abend zu zweit beschreibt. Oder beschreiben könnte. Man weiß ja nie.
Musikalisch fahren Genesis hier alles auf, das Stimmungen und Emotionen erzeugt: Tempowechsel, eindringliche Athmosphäre, irre Instrumental-Soli und fast jeden Rhythmus, den man sich vorstellen kann. Und trotz aller Komplexität fügt sich alles nahtlos zusammen und trotz aller Psychedelik ist der Vortrag kühl, klar und technisch perfekt. 'Sophisticated', so nennt das der Brite wohl. Die Platte und vor allem "Supper's Ready" ist nichts anderes als eine Meisterleistung der Fantasie und Musizierkunst, höchstens vergleichbar mit anderen britischen Monumenten wie "Close To The Egde" von Yes oder "The Lizard" von King Crimson. Dementsprechend ein echter Meilenstein des Rock und somit kann diese Platte Ewigkeitswert beanspruchen. Punkt.
P.S.: Für Einsteiger gibt es eine remasterte CD von 2009. Anchecken.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
21 Kommentare mit 6 Antworten
Dieser Kommentar wurde vor 11 Jahren durch den Autor entfernt.
lapacholapacho 28. April 2013, 17:28 Uhr
die sternstunde des progressive rock, der musikgeschichte an sich. tiefer bückling und ein dank an genesis aus der ära gabriel, collins, hackett, banks für dieses werk! die musikalische perle ?supper?s ready? mit ihren filigranen tönen neben den bombastischen, die abwechslung von schwebenden passagen und den geerdeten parts. abwechslungsreich, berührend, berauschend. hühner- gänse und pferdehaut erzeugendes musikalisches opus. das exorbitante meisterwerk im prog....bin just wieder mal berauscht von
alleine wegen Zeilen ist Suppers Ready hörenswert :
There's Mum & Dad
And good and bad
And everyone's happy to be here
There's Winston Churchill
Dressed in drag
He used to be
A British flag
Plastic bag
What a drag
The frog was a prince
The prince was a brick
The brick was an egg
The egg was a bird
(Fly away, you sweet little thing
They're hard on your tail)
Hadn't you heard?
(They're going to change you into a human being!)
Von Peter Gabriel kommend ist es mir nie gelungen, die alten Genesis-Alben zu mögen... vielleicht weil ich nie gekifft habe? Irgendwie sind die Platten schlecht gealtert. Dagegen strahlt ein Crime Of The Century von Supertramp in zeitloser Schönheit.
Egal welches Album von Genesis. Egal welches Album man beorzugt. Genesis war und ist musikalische "Hörschule" um davor verschont zu werden, Opfer und Fan des musikalischen Einheitsbreis zu werden.
Die Apocalypse von Supper's Ready ist ein absolutes Meisterwerk.