laut.de-Kritik

Das Beste zweier Welten: Emo und Hardcore.

Review von

Hot Water Music-Frontmann Chuck Ragan hatte einen Plan. Und wäre dieser aufgegangen, hätte es seine Band und ihr furioses Post-Hardcore-Debütalbum "Fuel For The Hate Game" nie gegeben. 1989 steht der 15-jährige Ragan in Florida bei der US-Fast-Food-Kette Wendy's hinter der Theke. Sein Vorhaben: Eine Woche durchhalten, ohne gefeuert zu werden und den Gehaltscheck für einen Abgang nach Kalifornien verwenden. Diese Woche übersteht er nicht. Ein Polizist steht eines Tages vor Ragan und schiebt seinem Fernweh wortwörtlich einen Riegel vor. Statt "Go West" heißt es für den Ausreißer von da an "Going In".

Drei Jahre verbringt er in einer Besserungsanstalt für schwer erziehbare Jugendliche. Die Art von Einrichtung, in der Schnürsenkel, Gürtel und auch Musik verboten sind. Später wird Ragan einmal sagen, dass ihm das Programm der Anstalt geholfen habe, auf den richtigen Pfad zu finden. Er opfert wertvolle Jahre seiner Jugend dafür. Das Musikverbot hatte seine Begeisterung für Punk, Hardcore und klassische Singer/Songwriter aber nicht bremsen können.

Kurz nach seiner Entlassung hängt Ragan in der Hardcore-Szene von Sarasota, Florida herum und plant den nächsten Umzug, der dieses Mal tatsächlich stattfinden soll. Knapp 290 Kilometer geht es Richtung Norden nach Gainesville, Florida, wo die Hardcore-Szene florieren soll. Mitstreiter findet Ragan in dem Schlagzeuger George Rebelo, dem Bassisten Jason Black und dem Gitarristen und Sänger Chris Wollard, die 1997 zusammen als Hot Water Music ihr erstes Album "Fuel For The Hate Game" veröffentlichen.

Auf so pragmatische Art und Weise können Bands entstehen, ganz ohne Casting oder Gezanke um Positionen. Rebelo, Black und Wollard hatten schlichtweg Laune, dieses Ding mit Ragan durchzuziehen. Dass das Quartett auch musikalisch perfekt harmoniert, beweisen die ersten Töne des Debüts. Auf "220 Years" drücken Hot Water Music ungeschliffenen Post-Hardcore aus den Boxen, der gleich zu Beginn ein großes Alleinstellungsmerkmal der Band in Szene setzt.

Hot Water Music verstehen es fabelhaft, ihren grobschlächtigen Sound in Harmonien fließen zu lassen, in denen Ragan und Wollard mit ihren zwei Reibeisen Erst- und Zweitstimme bilden. Dabei klingen die beiden wie zwei Kumpels, die nach einer durchzechten Nacht Arm in Arm Lieder singend nach Hause wanken. Nicht selten verfehlen sie dabei manchen Ton, wirken aber unschlagbar ehrlich und authentisch. Gleiches gilt für die kratzigen Gitarren, die mal unisono ihre Kräfte bündeln, oder sich in verspielten Dialogen die Bälle zuwerfen.

Zu den großen Vorbildern von Hot Water Music zählen unter anderem Ian MacKayes Post-Hardcore-Pioniere Fugazi aus Washington, D.C., was sich vor allem am hohen Melodieanteil im harten Grundgerüst heraushören lässt. Während Fugazi jedoch gerade auf dem Debüt "Repeater" einen etwas kühleren, technischeren Ansatz verfolgten, geben sich Hot Water Music auf "Fuel For The Hate Game" deutlich gefühlsbetonter. Nach einem Becken-Intro bricht auf "Blackjaw" eine aufwühlende Kritik an den Arbeitsbedingungen für Minenarbeiter los, die schunkelnd von schwarzen Lungen und alleingelassenen Familien erzählt. Hier legen Ragan und Wollard so viel Herzblut in ihre verzweifelten Stimmen, dass sich die Armhaare aufstellen.

So dominant dieses Dreamteam auch sein mag, Blacks Bassspiel gestaltet sich als ebenso definierend für den treibenden Sound der Band. Auf seinem Viersaiter zelebriert er abgedrehte Läufe, die zwischen Groove und Melodie alles beherrschen und stets im eigenen Rampenlicht stehen. Statt der Band lediglich Tiefe im niedrigen Frequenzbereich zu liefern, fügt Black mit seinem Bass noch eine melodische, technisch beeindruckende Ebene hinzu. "Trademark" lebt alleine von seinen schwindelerregenden Tonfolgen im Intro, die später eine melancholische Symbiose mit dem Gitarren-Tag-Team eingehen.

Kaum vorstellbar, dass Hot Water Music die Songs für ihr Debüt unverstärkt im Wohnzimmer geschrieben haben. In ihrem damaligen Appartement in Gainsesville wollten sie Stress mit den Nachbarn durch laute Amps lieber vermeiden. Was sie dort schon in ihren Köpfen hören konnten, kommt auf "Fuel For The Hate Game" als mitreißendes Sound-Gemisch aus großen Melodien und kratzborstiger Härte zusammen.

Und dann wäre da noch "Freightliner". Wer nach den vier Beckenschlägen und der tragenden Gitarrenmelodie nicht sofort an Kickflips und Halfpipes denkt, hat ein großes, popkulturelles Phänomen der frühen 2000er verpasst. Durch den Soundtrack des Videospiels "Tony Hawk's Pro Skater 2" dürfte der Song noch heute zu den bekanntesten Titeln von Hot Water Music zählen. Auf allen Plattformen, für die das Spiel veröffentlicht wurde, verkaufte es sich knapp 5,3 Millionen mal.

Millionen Spieler grindeten also mit Spider-Man durch New York, fanden mit Steve Caballero alle Tapes in Venice Beach oder tricksten das Spiel mit der Mondphysik aus, während sie Ragans sehnsüchtigen Gesang im Ohr hatten. Neben dem Nostalgiefaktor aus dem Röhrenfernseher steht der Song aber auch für sich selbst als Highlight, das mit massig Melancholie und großen Gefühlsausbrüchen von ewiger Freundschaft handelt. Wenn die beiden Gitarren das Riff im Finale im Einklang zersägen, sorgt das für wohlige Glücksgefühle.

Auch "Facing And Backing" beginnt mit einem Frage-Antwort-Spiel der Gitarren, ehe sich die beiden einigen und gemeinsam in die gleiche Groove-Kerbe hauen. Diese Dynamik liefert immer wieder klangliche Aha-Erlebnisse zwischen Hardcore und Emo. Für filigrane Abwechslung sorgt auch Rebelo, der etwa in "North And About" in seinem Schlagzeugspiel etliche Fills und Rhythmuswechsel einbaut und damit die Tiefe des Hot Water Music-Sounds untermauert.

Wie wichtig diese Einheit für die vier jungen Hitzköpfe ist, machen sie im Abschluss "Drunken Third" deutlich: "It feels good connecting / With the union, all singing / Full hearted, frustrated, / But backed up by my friends." Alleine diese Textzeilen könnten als treffende Zusammenfassung für dieses wütende, inbrünstige und dabei unglaublich harmonische Debütalbum stehen.

Hot Water Music bauten von da an auf dem Konzept der harten Harmonien auf. Auf späteren Alben wie "No Division" klingen die Südstaatler bereits gereifter, der Sound geschliffener. Auf "Fuel For The Hate Game" wirken sie in der Retrospektive ungehobelt und an manchen Stellen noch nicht so koordiniert.

Auf der Platte hört man vier wütende Jungs, die sich in den Traum von der Musik verbissen haben. Roh, energetisch und mit einem Hang zu wundervollen Melodien. In einem späteren Interview hat Bassist Black einmal die Diskographie seiner Band bewertet. Dieses Album landete auf Platz zwei hinter "Caution". "Es klingt veraltet, aber nicht beschissen", erklärte er scherzhaft.

Hot Water Music haben sich damit durchgesetzt, obwohl sie nur schwer Anklang fanden. Zu soft für Hardcore-Puristen, zu hart für Emo-Fans. Das Beste aus beiden Welten kommt auf diesem Debüt zusammen. Und das ausgerechnet wegen eines Polizisten, der Ragan aus einer Wendy's-Filiale zog. Vielen Dank, Herr Wachtmeister!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. 220 Years
  2. 2. Turnstile
  3. 3. Blackjaw
  4. 4. Trademark
  5. 5. Freightliner
  6. 6. The Sleeping Fan
  7. 7. Facing And Backing
  8. 8. Rock Singer
  9. 9. North And About
  10. 10. Difference Engine
  11. 11. Drunken Third

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